ISBN: 3-88724-006-5
Das sechste Filmbuch der Kino-Zeitschrift „Cinema“ ist deren erstes, das sich dem erotischen Film widmet, scheint aber ungefähr im selben Zeitraum wie der vierte Cinema-Sonderband „Sex im Kino – Höhepunkte des erotischen Films“ entstanden zu sein. „Kino der Lüste“ wurde 1982 in der Zweiter Kino-Verlag GmbH veröffentlicht und von Jürgen Menningen, Berndt Schulz sowie Adolf Heinzlmeier verfasst. Wichtiger ist über weite Strecken jedoch die grafische Gestaltung, für die Lutz Kober verpflichtet wurde.
Das Konzept des 230 Seiten starken, großformatigen Schmökers im broschierten Einband setzt nämlich nach einem knappen Vorwort ungefähr 200 Seiten lang auf Setfotos noch und nöcher, teils großformatig und seitenfüllend, teils mehrere auf eine Seite. Eine untergeordnete Rolle spielt da der Begleittext, der – eingeteilt in die Hauptkapitel „Das erotische Objekt: Die Frau“, „Das erotische Subjekt: Der Mann“, „Die erotische Inszenierung“, „Die erotischen Symbole“ und „Das erotische Karussell“ – in zahlreiche von etwas längeren Vorwörtern eingeleitete Unterkapitel aufgegliedert sämtliche visuellen Aspekte der Filmerotik abzudecken versucht und zunächst die weibliche Anatomie Stück für Stück auseinandernimmt.
Das Schöne daran ist, dass er sich nicht etwa auf „Muschi, Titten und Arsch“ beschränkt, sondern ein Bewusstsein für subtile Erotik schafft, indem er mit Augen und Haaren beginnt, sich über Lippen, Filmküsse und Berührungen zum Hals und schließlich zum Busen vortastet, nur kurz im Schoß verweilt und über die Beine und den Rücken zum Gesäß findet. Einige Seiten sind im Anschluss dem Mann in einigen aufreizenden Posen gewidmet, mehr als einmal jedoch auch umringt von willigen Frauen. Generell muss konstatiert werden, dass das Buch überwiegend eine heterosexuell männliche Perspektive einnimmt, was größtenteils der damaligen Zielgruppenorientierung von Sekundärliteratur zum Thema Film, aber auch erotischer Kinoproduktionen geschuldet gewesen sein dürfte.
Im Kapitel um die erotische Inszenierung geht es weniger um Regie, Kameraperspektiven oder gar Filmanalyse, sondern um Kostüme und das Ablegen derselben sowie um Tanz. In den nächsten Abschnitten thematisiert man Filmschauplätze fleischlicher Gelüste wie Bordelle, (natürlich) Betten und Badewannen bis hin zur freien Natur. Das Kapitel um Symbolik bezieht sich leider lediglich auf Phallussymbole, Stiefel und spritzende Sektflaschen – insbesondere hier wäre wesentlich mehr möglich gewesen. So weit, so gut, so harmlos, wenngleich der etwas arg gestelzte oder schwülstige, um keine Metapher verlegene Text mitunter an den Nerven zerrt respektive die Grenze zur unfreiwilligen Komik überschreitet (S. 103: „So wie die Anatomie der Frau in ihre Bestandteile zerlegt und je nach Geschmacksrichtung zu pikanten Leckerbissen hergerichtet ist, entspricht ihre Darbietung auf der erotischen Speisekarte saftigen Fleischstücken, süßen Crêpes und flaumigen Soufflés. Es darf geschlürft, geschleckt und geleckt werden…“).
„Das Spektrum der sexuellen Temperamente und Spielarten vervielfacht sich zu einem grellbunten rauschenden Liebeskarussell“, schließt das Vorwort zum „Das erotische Karussell“-Hauptkapitel, das an verschiedenen Beispielen die neue Diversität erotischer Darstellungen im Film seit der sexuellen Revolution aufzeigen will. Im Subkapitel „Vom Zauber der Nymphe“ blickt einem dann jedoch gleich mehrfach die minderjährige, unbekleidete Eva Ionescu entgegen, ohne die mehr als fragwürdige Rolle, die sie damit im Erotikgeschäft einnahm, auch nur mit einer Silbe zu problematisieren. „Inzestuöse Gelüste“, wie die Autoren hier Pädophilie zu nennen scheinen, scheint hier ebenso gleichberechtigt akzeptiert zu sein wie Sex mit Tieren, der in einem Oshima Nagasi zugeordneten Zitat angerissen wird: „[Ein Regisseur] will einen Mann und eine Frau filmen oder einen Mann und einen Mann oder eine Frau und eine Frau oder einen Menschen und ein Tier, während sie sexuellen Verkehr miteinander haben.“ Danke, nein.
Weibliche Selbstbefriedigung, Frauen in Nonnenkluft (ohne dass der Begriff Nunploitation fiele), das Spiel mit den biologischen Geschlechtern (Travestie u. ä.) und gleichgeschlechtlicher Sex bilden die vertretbaren nächsten Punkte ab, wobei die Autoren zu letzterem wissen: „Der schwule Mann ist weniger attraktiv fürs Publikum. Männliche Homoerotik wird ungleich schamhafter behandelt als die weibliche.“ Mit dieser nüchternen Bestandsaufnahme bringt das Buch den damaligen Status quo auf den Punkt, den es jedoch zugleich unangetastet lässt. Mit über rein filmischer Darstellung von Erotik und Sexualität hinausgehendem Skandalpotential beschäftigt sich dann noch in aller Kürze der Abschnitt „Sexplosion“, der „Lustgreise“, „Rassen“grenzen überschreitende Lust und das Überwinden bzw. Ignorieren von Schönheitsidealen erwähnt, im Vorwort aber auch bilanziert: „Partnertausch, Perversionen, Pädophilie, Kindersex, Exhibitionismus, Gruppensex, Sodomie… die Eskalation schien ihren Gipfel erreicht zu haben.“ Auch hier lässt man eine eindeutige Distanzierung von Kindesmissbrauch vermissen, ja, nennt ihn ebenso wie Sodomie in einem Atemzug mit Partnertausch und Gruppensex. Unfassbar.
Die letzten 18 Seiten sind jedoch vollkommen anderer Gestalt. Sie gehören Berndt Schulz, der die Leserinnen und Leser auf einen sehr textlastigen Streifzug durch die „Geschichte des erotischen Films“ mitnimmt, der beim ersten Filmkuss aus dem Jahre 1897 ansetzt und Anfang der 1980er endet. Dieser Essay ist inhaltlich um einiges gehaltvoller, wenngleich auch die 200 vorausgegangenen Seiten interessanterweise nicht erst bei der sexuellen Revolution einstiegen, sondern u. a. auch alte Schwarzweißfilme aus Zeiten der Zensur berücksichtigten. Mit dem deutschem Sexfilm geht Schulz hart ins Gericht: „Sein Klima ist eigentlich antierotisch, seine Finessen sind plump. Sexualität wird meist als heimliches Getue vorgeführt. Klamauk herrscht vor. Mann und Frau bewegen sich in überholten Rollenklischees. Sex wird nicht aus Lebensfreude praktiziert, sondern um Vorteile zu erlangen. Traditionelle Vorurteile gegen Minderheiten oder Außenseiter feiern Urständ. Sex wird exekutiert, nicht genossen. Sexfilme sind so stereotyp wird Präservative. Sie sind nicht schweinisch, sie sind noch unter aller Sau, nämlich phantasielos.“ Der Mann spricht mir aus der Seele. Vermisst habe ich in seiner Geschichtsstunde jedoch den sog. Skandalfilm „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef, und die Behauptung, Jayne Mansfield habe am Ende ihrer Karriere in Pornos mitgespielt, konnte ich nicht verifizieren. Ist ihm da ein Lapsus unterlaufen?
Arbeitet man sich durch den Text, fällt unweigerlich auf, wie viele als in irgendeiner Form bedeutsam genannte Filme es leider nicht ins DVD-, ja, häufig nicht einmal ins VHS-Zeitalter geschafft haben und somit kaum oder gar nicht verfügbar sind. Leider wird gar nicht erst zu jedem Filmbild die Quelle genannt; auch der Filmindex im Anhang hilft da kaum weiter, da er nicht nach Seitenzahlen, sondern nach Titeln sortiert wurde. Dafür verweist eine Bibliographie auf möglicherweise weiterführende Literatur. Insgesamt macht dieses Filmbuch einen äußerlich recht professionellen Eindruck, es ist sauber gelayoutet und Rechtschreibfehler halten sich in engen Grenzen. Berndt Schulz dürfte sich geärgert haben, dass man „Berdt“ aus ihm machte, und wenn auf Seite 83 aus Mario „Maria“ Adorf wird, kann man sich ein Schmunzeln dennoch nicht verkneifen – wenngleich einem das Lachen aufgrund weiter oben erwähnter Versäumnisse auch schon mal im Halse stecken bleibt. Fazit: Als Bildband gut, textlich durchwachsen und vielfach mehr ein Sittenportrait der damaligen Zeit denn fundiertes Nachschlagewerk.
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