Günnis Reviews

Kategorie: Konzertberichte (page 6 of 44)

12.08.2022, Indra, Hamburg: D.R.I.

Einen Tag vor meinem ersten Erholungsurlaub des Jahres (endlich!) ging’s noch mal in den Indra-Club auf den Kiez, um nach etlichen Jahren tatsächlich mal wieder die texanische HC-Punk- und Crossover-Legende D.R.I. zu sehen, die sich ihrer 40th Anniversary Tour befand. Eine Vorband zu finden war offenbar nicht so einfach, sogar uns (DMF) hatte man angefragt – doch unabhängig von meinen Plänen herrschte bei uns noch Urlaubssaison. Dann eben ohne! D.R.I. hatten, so erfuhr ich am Einlass, zwei verschiedene, von einer Pause unterbrochene Sets geplant, was sich schon mal vielversprechend anhörte. Im anheimelnden Biergarten hatte die Band ihren Merchstand aufgebaut, hinter dem bis kurz vorm Gig Shouter Kurt Brecht persönlich die Waren feilbot.

Das Publikum im ordentlich gefüllten, aber nicht ausverkauften Indra war die erwartete Mischung aus HC-Volk, Headbangern und Punks, die dem kleineren bewegungswütigen Teil großzügig die Fläche vor der Bühne überließ. D.R.I. spielten eine ziemlich geile Mischung aus den kurzen eruptiven HC-Songs der Frühphase über den spritzigen, flotten HC-/Metal-Crossover (den sie miterfanden) bis hin zum Mut-zum-Midtempo-Sound, der in den 1990ern Hits wie „Acid Rain“ hervorbrachte. Die Herren im mittlerweile gesetzteren Alter agierten routiniert, aber nicht gelangweilt. Gitarrist Spike Cassidy ließ sich für seine Soli von den Langhaarigen feiern, und wie locker Drummer Rob Rampy die treibenden Beats aus dem Handgelenk schüttelt, ist nach wie vor aller Ehren wert.

Zwischendurch kam es zu einem kuriosen Vorfall: Jemand aus meinem Bekanntenkreis schnappte sich überraschend den Papiermülleimer der Herrentoilette und entleerte ihn mitten im Set auf der Bühne. Beifall- oder Unmutsbekundung? Das wusste er wohl selbst nicht so genau, die verdutzte Band jedenfalls fasste diese Aktion tendenziell eher als Affront auf. „Ok, I see: Now it’s a gig against the crowd!”, und dieser beflügele ihn besonders, ließ Kurt wissen – und trat weiterhin, nun zwischen etlichen Zellstoffknüllen, kräftig Arsch. Auch ich ließ mich zu manch Tänzchen hinreißen, schwitzte an diesem heißen Augusttag wie die Sau und fragte mich nach jedem Song, wann denn wohl die versprochene Pause kommen würde. Pustekuchen! D.R.I. zockten durch und beendeten den Gig erst nach gefühlt 35 Songs. Besonders freute ich mich über meine Favoriten „Couch Slouch“, „Manifest Destiny“, „5 Year Plan“ und „Thrashard“, die allesamt in einem wuchtigen, aber crunchigen Sound dargeboten wurden. Von mir aus hätte seitens des Publikums gern noch mehr ausgerastet werden dürfen, andererseits konnte ich so unfallfrei die Bewegungsfreiheit vor der Bühne genießen.

Anschließend ging’s noch auf ‘nen Absacker und ‘ne kräftige Dosis Sauerstoff in den Biergarten (und kurz ins Semtex), diesmal aber ohne es zu übertreiben. Fazit: D.R.I. waren genau das Richtige, um sich nach einer stressigen Zeit und unmittelbar vorm Urlaub noch mal schön die Ohren durchblasen zu lassen, bevor’s für zwei Wochen an den Ostseestrand ging und fast nur noch die BEACH BOYS aus der Konserve aufspielten.

29.07.2022, Indra, Hamburg: 10 Jahre Tanztee-Soundsystem mit SKASSAPUNKA + GHOSTBASTARDZ + ACULEOS + BOLANOW BRAWL

Es ist die Zeit der Jubiläen: Kürzlich noch bei 8 Jahre Beyond Borders gewesen, nun also 10 Jahre Tanztee-Soundsystem. Vor zehn Jahren haben sich auch BOLANOW BRAWL gegründet, meine unheimlich veröffentlichungsfaule Streetpunk-Band, mit der wir für meine andere Band DISILLUSIONED MOTHERFUCKERS eingesprungen waren. Diese sollten nämlich eigentlich spielen, entfielen aber aufgrund privater Terminkonfusionen. Es ist eben immer gut, eine Zweitband zur Hand zu haben…

Die passte eigentlich auch besser auf dieses Skinhead-affine zweitägige Festival im Indra, auf dem sich Livebands mit DJ-Sets die Klinke in die Hand gaben. Die rührigen Veranstalter Torben und Anne umsorgten uns mit Speis und Trank und dürften zu den nettesten und entspanntesten Tanzteetrinkern der Szene zählen. Unser Soundcheck lief eigentlich problemlos, die Regel will es aber, dass immer mindestens eine Monitorbox rumzickt (offenbar echt sensibel, diese Dinger). Diesmal gab Oles Monitor keinen Laut, weshalb er kurzerhand gegen ein funktionstüchtiges Exemplar ausgetauscht wurde (der Monitor, nicht Ole). Endlich auch selbst mal auf der Indra-Bühne zu stehen, fand ich schon beim Soundcheck geil, und dass ich ‘nen famosen Monitorsound vom Soundmann gezaubert bekam, war dann die Kirsche auf der Sahnehaube.

Draußen wurde der Grill und drinnen das erste DJ-Set angeworfen, wir begannen, uns zu betrinken und spielten pünktlich ab dem Anpfiff um 21:00 Uhr ein 35-Minuten-Set vor einem sehr sympathischen Publikum, das in beachtlicher Anzahl die allererste Band des Abends begutachtete. Abgesehen vom Umstand, dass Gitarrist Christian in einer halben Stunde drei Stimmpausen unterbringen musste, flutschte alles gut durch und hat so richtig Laune gemacht.

Die Prager SHARP-Band ACULEOS trat ebenfalls in Fünferbesetzung mit zwei Klampfen an und spielte ‘nen recht rauen Oi!-Stiefel mit vornehmlich in Landessprache verfassten Texten. Apropos Stiefel: Der Sänger hatte sich offenbar den Fuß gebrochen und daher selbigen in einem medizinischen Moonboot stecken. Die meiste Zeit über nahm er auf einem Barhocker Platz, zuweilen stand er aber auch kurz auf. ACULEOS ließen eine Whiskey-Buddel im Publikum kreisen, erregten Aufsehen mit einem im mittleren oder hinteren Teil des Sets integrierten, arschgeilen englischsprachigen Song und coverten die 8°6 CREW mit neuem Text („Rebels“). Die THE-OPPRESSED-Nummer „Work Together“ beschloss den regulären Teil des Sets, doch auf die zahlreichen Forderungen nach einer Zugabe hin fasste man sich ein Herz und spielte einen auf der PENNYWISE’schen „Bro Hymn“ basierenden Song, der im Refrain „Skinhead fight tonight“ oder so verlauten ließ und keinesfalls derart in die Länge gezogen wurde wie das Original, sondern viel zu schnell schon wieder vorbei war. Klasse Gig, der entsprechend gut ankam und die allgemeine Stimmung weiter steigerte. Würde ich mir gern beizeiten noch mal ansehen.

Die nachfolgenden Bands GHOSTBASTARDZ und SKASSAPUNKA bekam ich – entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten – nur noch am Rande mit, weil ich mich erst draußen im Biergarten festquatschte und es dann genoss, einfach dort zu bleiben. Sorry! Ich glaube, meine Aufmerksamkeitsspanne war für diesen Abend auch einfach erschöpft. Ach ja, zwischendurch wurde noch Bingo gespielt; und beide Bands wurden wohl gebührend gefeiert und dürften ebenfalls ‘ne verdammt gute Zeit gehabt haben. Am nächsten Tag war ich anderweitig eingespannt. Dem Vernehmen nach war’s Samstag insgesamt wohl etwas weniger Publikum, das sich Bands wie VIETSMORGEN, ASHPIPE, CITY SAINTS u.a. reinzog. Ich hoffe, dass auch dieser Abend dennoch gelungen war und alle auf ihre Kosten gekommen sind.

Glückwunsch zu zehn Jahren Tanztee; danke, dass wir einspringen durften und so gut umsorgt wurden! Auf die nächsten zehn!

P.S.: Danke auch an Svenja für die Fotos unseres Gigs sowie an Small-Town-Timo für diesen Videoausschnitt:

23.07.2022, Gängeviertel, Hamburg: 8 Jahre Beyond Borders mit DIE SCHWARZEN SCHAFE + FREIDENKERALARM + DR. ULRICH UNDEUTSCH + GESTRÜPP

Fast zwei Wochen war ich in Homeoffice/Covid-19-Isolation, was mich beinahe in den Wahnsinn trieb. Quasi pünktlich zu den endlich wieder negativen Tests feierte die Beyond-Borders-Konzertgruppe ihr Achtjähriges mit einem zweitägigen Festival im großen Konzertsaal des Gängeviertels, was mir wie gerufen kam. Ich musste endlich mal wieder raus, verbrachte den Freitag aber noch im Erholungsmodus. Samstag jedoch raffte ich mich auf, um den zweiten Tag des Festivals mitzunehmen. Ein bisschen zu Hause vorgeglüht und nebenbei noch paar Dinge erledigt, dadurch die ersten GESTRÜPP-Songs verpasst. Es folgten aber noch einige, sodass ich mir einen ersten Eindruck dieser noch jungen Norderstedter Band aus dem SZ-Umfeld verschaffen konnte. Und dieser war positiv: Mit Kontrabass (gespielt von Szenetausendsassa Holli) und wechselnder Instrumentierung spielen GESTRÜPP recht eigenständigen Punk mit Folkeinflüssen. Die Sängerin, die ich noch von AUS DEM RASTER kannte, tauschte ihre Akustikklampfe zuweilen gegen Querflöte und andere folkloristische Instrumente. Das hatte trotzdem alles gut Schmackes, vor allem aber Stil und Atmosphäre. Hat mir gefallen, und beim nächsten Mal werde ich vielleicht auch pünktlich sein und mich besser auf die Band konzentrieren.

DR. ULRICH UNDEUTSCH aus dem Sachsenland hatte ich bereits zweimal genau hier gesehen. Zuletzt waren sie mit zwei Gitarren aufgetreten und hatten einen schön satten Sound, diesmal trat man wieder als Quartett mit nur einer Klampfe auf. Trotzdem gefiel mir die Band so gut wie nie zuvor – entweder haben sich meine Hörgewohnheiten geändert oder der „Undeutschpunk“, wie sie ihren Stil nennen, hat sich gemausert. Die Gitarre sägte amtlich und der flotte Hardcore-Punk wurde von der Rhythmussektion ordentlich nach vorne getrieben. Alles in allem ‘ne runde Sache und für meinen Geschmack hätte der Gesang gern noch etwas lauter gedurft, damit man vielleicht etwas mehr von den hörenswerten, gesellschafts- und politkritischen Texten aufschnappt.

Dies war nämlich beim Trierer FREIDENKERALARM der Fall, die einen Spitzensound bekamen und fast nach mehr als ‘nem Trio klangen: Von der Gesamtscheiße angepisste deutschsprachige Texte, melodisch mit angerautem Organ gesungen, ein angenehmes, tanztaugliches Tempo und vor allem unaufdringlich eingängige, zupackende Gitarrenmelodien bei stets präsentem Druck. Der erste Song klang hingegen noch völlig anders, schien aber eher Intro-Charakter zu haben. Die Darbietung wusste mich doch ziemlich zu begeistern, bis mir das Gequatsche zwischen den Songs zu viel Preaching-to-the-converted-Charakter annahm. Getoppt wurde das noch, als die Band das Publikum aufforderte, den antirassistischen Kniefall durchzuführen – und bis auf zwei, drei Menschen diesem tatsächlich alle nachkamen. Was als Solidaritätsausdruck auf großen Veranstaltungen oder bei TV-Übertragungen, wenn Millionen Augen auf sie gerichtet sind, absolut Sinn ergibt, erscheint mir vor spärlicher Clubkulisse unter Gleichgesinnten eher als kollektiver Akt der Masturbation. Und davon einmal abgesehen fühlt es sich befremdlich an, wenn antiautoritäre, anarchische Punks auf die Knie fallen, weil jemand von der Bühne aus sie dazu auffordert… Dem Gitarristen gelang übrigens das Kunststück, sich während des Gigs gleich zwei Saiten auf einmal zu zerreißen. Es wurde aber rasch Abhilfe geschaffen.

Dass ich DIE SCHWARZEN SCHAFE zuletzt live gesehen hatte, dürfte nicht nur eine halbe, sondern eine ganze Ewigkeit her gewesen sein. Mit ein paar Songs im Ohr hatte ich mich schon auf dem Hinweg in Stimmung gebracht – und jetzt richtig Bock. Sänger Armin hatte ich gar nicht erkannt, als ich ihn wegen seines blauweißen Brasilien-Trikots neben mir auf dem Klo scherzhaft mit „Schalke!“ oder so anlallte… Ich war überrascht, wie frisch die Herren im mittlerweile etwas fortgeschrittenen Alter (noch? wieder? erstmals?) klingen, zudem bekamen sie einen perfekten P.A.-Sound spendiert. Die Düsseldorfer spielten wirklich all ihre Hits – „Die Weber“, „Neue Rituale“, „So lang dabei“, „Zu spät“, „Nacht“ und wie sie alle heißen – und was mir davon geläufig war, sang ich begeistert mit. Während ich ausgelassen vor der Bühne herumsprang, bekamen erst ich und schließlich auch andere des fröhlichen Pogomobs das Mikro zum Mitsingen einzelner Textzeilen hingehalten, Publikum und Band waren schnell aufeinander eingegroovt und interagierten bestens miteinander. Die Ohrwurmmelodien der SCHAFE erstrahlten gegenüber manch alter Plattenaufnahme in vollem Glanz und wurden von einem supertighten Drummer mit so kräftigem Punch versehen, als sei jeder Schlag eine unmissverständliche Einladung zur grobmotorischen Expression. Ohne Zugabe wurde die Band nicht aus dem Viertel gelassen. Großartiger Gig, punk as fuck, Band in Höchstform, euphorisches Publikum – so muss dat. Wenn die irgendwo in der Gegend spielen: Hin da!

Vermutlich waren am ersten Festivalabend ein paar Besucherinnen und Besucher mehr da und pflegten nun ihren Kater, andererseits haben ja gerade fast alle Veranstalterinnen und Veranstalter mit einem gemessen an präpandemischen Zeiten deutlich zurückhaltenderen Publikum zu kämpfen. Ich vermute jedenfalls stark, dass vor ein paar Jahren noch wesentlich mehr Leute einem Abend wie diesem beigewohnt hätten. Der gelungenen Geburtstagsparty tat dies jedoch keinen Abbruch. Glückwunsch an Beyond Borders zum Achtjährigen!

30.06.-02.07.2022, Göteborg, Schweden: FRAGILE MOUNTAIN PUNK FESTIVAL

„Fraggles, das sind wir…“

Unser neuer Bassist Holler hat ‘ne Schweden-Connection und konnte für uns eintüten, dass wir auf dem ersten FRAGILE MOUNTAIN (Schwedisch für „Fraggle Rock“) spielen. Somit sollte unser erster Gig seit 7“-Veröffentlichung, Pandemie und Umbesetzung (Drummer Dr. Tentakel ging in Punkrockrente und übergab die Sticks an Eisenkarl, den Bass übernimmt seitdem Holler) direkt auf einem ausländischen Open Air stattfinden – zudem unser erster Auslandsgig überhaupt. Dadurch hatten wir ein Ziel vor Augen, auf das sich hinzuproben lohnte. Außerdem ging es um eine gute Sache: Die Göteburger Punkszene, organisiert als „GBG Punkpöbel“, wollte übers Festival Geld zusammenbekommen, um einen Ort für Punks und Ähnlichgesinnte finanzieren zu können. Ursprünglich waren wir für den Samstag vorgesehen, was mir gut gepasst hätte. Das änderte sich irgendwann, wir sollten Freitag spielen – was mich vor ein Problem stellte. Den ersten Arbeitstag eines Monats kann ich mir normalerweise nur freinehmen, wenn ich dessen Arbeit komplett am vorherigen Tag erledige. Den Ersten und den Tag davor freinehmen geht hingegen gar nicht. Das bedeutete: Donnerstag durchziehen und um 18:00 Uhr direkt nach der Maloche los Richtung Schweden. Unsere Spielzeit war auch immer weiter nach vorn gerückt, mittlerweile hieß es 14:40 Uhr. Der Plan war, bis nach Frederikshaven in Dänemark das Pedal durchzutreten und um 00:15 Uhr die Fähre nach Göteborg zu nehmen, um dort um 3:30 Uhr anzukommen und noch ein paar Stunden Schlaf vorm Auftritt zu kriegen.

Unsere Reisegruppe war illuster: Helldriver T-Check hatte seinen Neunsitzer gesattelt und Holler war schon ‘nen Tag früher abgereist, sodass neben uns übrigen drei Motherfuckern und meiner Liebsten noch weitere Freundinnen und Freunde des erlebnisorientierten Tourismus mitfahren konnten, darunter DK von Erroristic Subculture, der seinen Merchstand dabeihatte, und der für unseren eigentlichen Mercher Dr. Tentakel (leider gesundheitlich verhindert) eingesprungene Carlo, ebenfalls mit gut gefülltem Bauchladen. Britta und Shirin komplettierten die Entourage. Zig Paletten billiges Dosenbier warteten zudem im Kofferraum auf ihre Verköstigung (auf dem Festival herrschte Glasflaschenverbot). Ich kam als Letzter am Treffpunkt an, betrat den Wagen – und das Chaos nahm seinen Lauf.

„…tonnenweise Dosenbier…“

Aufgrund eines Missverständnisses schlug unser Fahrer den Weg zu einer falschen Fähre ein, was er sogar noch irgendwie gesagt hatte, ich als schlechtester Beifahrer der Welt aber gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Bei mir klingelte ohnehin nichts, weil sich Holler um die ganze Planung gekümmert und somit auch unsere Fähre gebucht hatte. Ich hatte zwar die Buchung ausgedruckt dabei, hätte aber nicht ohne abzulesen sagen können, von wo genau unsere Fähre überhaupt ablegen sollte. Relativ frühzeitig fiel das zwar auf und T-Check aktualisierte den Navi – doch, fuck:  Auch wenn wir von vornherein richtig gefahren wären, hätten wir’s zeitlich höchstens gerade so, mit Ach und Krach, rechtzeitig zur Fähre schaffen können. Das war uns Experten gar nicht so bewusst gewesen. Ohne viel Federlesens fasste T-Check den kühnen Entschluss, Fähre Fähre sein zu lassen und über die Brücke auf dem Landweg nach Göteborg zu heizen. Ein Mann, ein Wort. Ich durfte nun auch so viel trinken, wie ich wollte, da der Zeitplan ohnehin über den Haufen geworfen war. Das musste ich auch, allein schon, um die Vorstellung erträglicher zu machen, entweder während der Fahrt zu pennen zu müssen oder kaum noch Schlaf vorm Gig zu finden.

Foto: Kai

Dabei nicht bedacht hatte er allerdings, dass meine Ankündigung, beim Biergenuss ständig pinkeln zu müssen, keinesfalls übertrieben war. So hielten wir auf jedem zweiten Parkplatz, wobei jedes Mal die Dosen aus der Beifahrertür klöterten wie anno dazumal auf dem Weg zum Force Attack oder in seligen Prä-Dosenpfand-Zeiten. Trotzdem durfte ich den DJ machen und lieferte somit den Soundtrack zu dieser Tour de force. Mein Vorsatz, mich nicht schon auf der Hinfahrt zu betrinken, relativierte sich mit jeder getrunkenen Dosenplörre. Dann fiel auch noch der fünfte Gang aus, was uns langsamer zu fahren zwang. Später verabschiedete sich auch der Rückwärtsgang. Am Grenzübergang zu Schweden fragten die Beamt(inn)en, wat wir fürn Haufen seien, woraufhin unser Tross mit „a band“ antwortete. „Which band?“ entgegneten sie, worauf ich ihnen unseren Bandnamen entgegengelallt haben soll, was offenbar für einiges Amüsement sorgte. Kurz vor Ankunft auf dem auf einem Berg gelegenen Gelände (eine zugeschüttete ehemalige allwissende Müllhalde?) am Rande eines Industriegebiets pennte ich ein, kurz vor 7:00 Uhr morgens kamen wir endlich an. Mein erstes Mal in Schweden! Was würde mich erwarten? Ein Festival voller Pippi Langstrumpfs und Michels, die Kinder von Bullerbü als Festival-Crew? Äh, nein. In Empfang nahm uns einer der Ordner, der ausschließlich schlechte Nachrichten für uns hatte. Der Wind hatte das geplante Merch-Zelt zerstört und – Zusammenhang? Unklar. – wir könnten mit dem Wagen dort nicht so stehen bleiben, und sowieso und überhaupt.  Übermüdet und ein bisschen angenervt von allem winkte unser Fahrer ab, zumal wir aufgrund des fehlenden Rückwärtsgangs ohnehin nicht mehr hätten zurücksetzen können. Außerdem stand die Karre doch verdammt gut, so, wie sie stand: in der Backstage-Parkzone am Rand, direkt am Zaun. Also Holler begrüßt, geholfen, das Zelt zum Zeltplatz zu wuchten und dann Google Maps angeschmissen, um den Weg zum 1,7 Kilometer entfernten AirBnB-Zimmer zu finden, das Flo und ich als notorische Camping-Hasser gebucht hatten. Zähneputzen, pipimachen und ab in die Koje.

Menschenzoo

Foto: Kai

Nach wenigen Stündchen Schlaf schreckte mich ein Scherzanruf meiner campenden Bandkollegen auf; nach der zweiten kurzen Pennrunde weckte meine wesentlich bessere Hälfte mich mit Frühstück und nahm mir meine übliche Sorge, durch den Rausch sämtliche Songtexte von der Festplatte gelöscht zu haben. Um 14:00 Uhr sollten wir uns backstage an der Bühne einfinden. Bei brütender Sonne machten wir uns rechtzeitig auf den Weg, ließen das Eingangsprozedere inkl. Filzen und Bändchenkriegen über uns ergehen und verloren ein paar Minuten, weil es dem Gatekeeper nicht reichte, dass Flo ihre Eintrittskarte vorzeigte. Er wollte auch noch die Zahlungsbestätigung sehen, die sie daraufhin umständlich aus ihrem Smartfon heraussuchen musste. Eilig fragte ich mich dann durch, wo ich langmüsse, und traf schließlich auf den Rest. Der hatte sich vorher an der kleinen Bühne versammelt, war von dort aber zur großen geschickt worden. Na, kiek an. Für den Fall meines Nichterscheinens hatte man sich offenbar bereits ernsthafte Gedanken gemacht, wie man die Show gestalten würde…

Die Bands spielten jeweils abwechselnd auf beiden Bühnen, Überschneidungen wurden so vermieden. Seit 13:00 Uhr war der Livebetrieb schon im Gange, tags zuvor hatten schon 23 Bands gezockt. VAROITUS bauten gerade ab und machten die Bühne frei für uns, ich musste erst mal dringend Bier ranschaffen. Auf dem Gelände wurde mit Lebensmittelmarken gearbeitet, jedes Bandmitglied hatte fünf Bier/Cider- und fünf Essensmarken (die für eine Mahlzeit reichten) erhalten. Verabreicht wurde Dosenbier der Sorte „Ey‘ Bro“ mit 5,0 Umdrehungen, in Schweden „Starköl“ genannt. Ich holte für die ganze Mannschaft und bat den „Schankwirt“, die Dinger erst mal geschlossen zu lassen. Das dürfe er nicht, antwortete er, denn dann sei das wie ein Verkauf; er dürfe aber nur ausschenken. Waren wir hier auf dem Fragile Mountain oder auf dem Gipfel der Korinthenkackerei? Schweden und seine Alkoholgesetze – da kannste dir nur an‘ Kopp packen…

Zum Lockerwerden schüttete ich mir das Zeug in den Hals. Schmeckte gar nicht schlecht, verursachte aber – vermutlich katerbedingt – einen latenten, aber schwer zu ignorierenden Kotzreiz bei mir, der sich glücklicherweise ohne Eskalation nach und nach langsam legte. Beim Aufbau und Soundcheck entpuppte sich der Soundmensch als Frankfurter Bub, mit dem wir auf Deutsch sabbeln konnten. Das ging alles reibungslos vonstatten und selten hatte ich einen solch guten Monitorsound auf einer Bühne. Unsere Live-Premiere in dieser Besetzung klappte dann auch beinahe wie am Schnürchen. Ich begrüßte das Fragile-Mountain-Festival und stellte uns als Disillusioned Motherdoozers vor, woraufhin wir uns durch ein Zwölf-Song-Set wüteten und als Zugabe den eigens fürs schwedische Publikum einstudierten PROJEKT-PULVERTOASTMANN-Hit „ACAB“ brachten. Die Mittagssonne bretzelte kräftig, eine frische Brise ließ sie uns etwas weniger spüren. Gegen Set-Ende spürte ich konditionell trotzdem die mangelnde Live-Erfahrung der letzten Jahre. Kurioserweise fiel, wann immer ich auf der Bühne sprang, die Stromversorgung von Hollers Bass kurz aus, was Eisenkarl am Schlagzeug etwas irritierte. Und so schnell und vor allem ohne Luft zu holen, wie Snorre einst „ACAB“ sang, werde ich’s wohl nie hinbekommen. Dafür sang ein nur mit Badehose bekleideter Besucher in der ersten Reihe den Refrain lauthals mit. Der P.A.-Sound muss sehr wuchtig, klar und differenziert geklungen haben, denn das tat er bei allen nachfolgenden Bands und wurde vom einen oder anderen Gast als ungewöhnlich „professionell“ empfunden. Das glaube ich gern.

Jenes Publikum übrigens hatte sich lediglich in ein paar versprengten Grüppchen vor der Bühne eingefunden. Neben unserer mangelnden Popularität ist der Grund dafür, dass – absurde schwedische Alkoholauflagen, die Zweite – kein Bier vor die Bühnen mitgenommen werden darf. Um’s für die Gäste dennoch so angenehm wie möglich zu gestalten, hat die Festivalleitung den Verzehrbereich genau in der Mitte zwischen beiden Bühnen eingerichtet, wo der Großteil der Besucherinnen und Besucher sich die meiste Zeit aufhielt, trank und den Bands lauschte oder miteinander plauschte. Jener Bereich war mit Gitterzäunen abgetrennt, sodass ein Trinkerinnen- und Trinkerkäfig entstanden war, im Prinzip eine Art Menschenzoo. Wäre mir das vor unserem Auftritt bewusst gewesen, hätte ich die Ansage zu unserem gleichnamigen Song entsprechend angepasst. Bei jedem Betreten oder Verlassen des Käfigs fanden Taschenkontrollen statt, uniformierte Möchtegernbullen vom Ordnungsamt überwachten permanent die Schose und sorgten für ein Gefühl permanenter staatlicher Überwachung. Fuck you, Sweden!

Direkt nach uns spielten auf der kleinen Bühne die latino-berlinerischen DØZIX, von denen ich aber während unseres Abbaus leider nichts so recht mitbekommen habe. Auf der großen beerbten uns REBUKE, die auf diesem Härtnersound-lastigen Festival (uns hatte man wohlgemerkt als punkrockige Auflockerung zwischen all den Crusties eingeladen!) mit flott gespieltem Skatepunk überraschten. Aus Göteborg stammend, hatte man eine kurze Anreise, aber trotzdem die Hi-Hat-Becken vergessen. Eisenkalle half aus und wurde wie ich vom Käfig aus Augen- und Ohrenzeuge eines technisch versierten Gigs mit eingängigen Songs, die zugleich zum Soundtrack meiner Orientierung auf dem Gelände wurden. Aus der Not mit dem zerstörten Merchzelt war eine Tugend gemacht worden; Carlo und DK hatten einen schicken Stand in einer der Ecken des Käfigs aufbauen können, wo er zum echten Hingucker und für unsere Reisegruppe zum Ankerpunkt wurde, um den herum man sich gern versammelte. Das Geschäft lief zudem recht gut und zu beobachten, wie sich Festivalbesucher(innen) mit geilem Scheiß wie z.B. David-Hasselhoff-Buttons eindeckten, machte Spaß. Da war eigentlich ständig was los. Das Publikum war gut gemischt, neben den üblichen Crusties und Iroträgern waren erfreulich viele junge Leute zugegen (einer ließ sich von seiner Mutter eine DOOM-LP kaufen) und nie zuvor habe ich so viele sich offen als nonbinär, also sich der männlich/weiblich-Kategorisierung entziehend, zu erkennen gebende Personen auf einem Punk-Festival gesehen. Wieder andere trugen Black-Metal-Corpsepaint. Generell waren hier gefühlt mehr Black-Metal-Shirts und -Aufnäher als auf ähnlichen Veranstaltungen hierzulande zu sehen. Allgegenwärtig natürlich auch ANTI-CIMEX-Merch an den Körpern. Aber auch auffallend viele Borderlinerinnen und Borderliner waren anhand ihrer Ritznarben auszumachen…

Im direkten Anschluss an REBUKE begab ich mich dann erstmals vor eine Bühne, um mir eine Band etwas fokussierter anzusehen. Meine Aufmerksamkeit geweckt hatten UZI, die einen erfrischenden, mitreißenden Hardcore-Punk-Sound fabrizierten. Die dauerlächelnde Sängerin schien jede Sekunde auf der Bühne mehr als alles andere zu genießen, vor der Bühne war mittlerweile ordentlich was los und der rauere Klang der kleinen Bühne passte perfekt zum Sound der jungen kolumbianischen Band, die bei Bandcamp ein wirklich geiles Album platziert hat. Nach POLIKARPA Y SUS VICIOSAS, die ich gerade auf dem Gaußfest gesehen hatte (und die am nächsten Tag auch hier spielen sollten), also die zweite sehr hörenswerte kolumbianische Combo innerhalb weniger Tage für mich. Zurück im Käfig war’s das dann aber erst mal mit den Bands, denn nun frönte ich dem, was auf Festivals meist genauso viel Spaß macht: dem Begrüßen und Kennenlernen anderer Leute, in meinem Falle in erster Linie anderer Hamburger, die indes schon seit Donnerstag hier waren und sich bereits mit dem halben Publikum angefreundet zu haben schienen. Eine Bier- oder auch mal Cider-Kanne nach der anderen gaben sich die Klinke in die Hand, bis der erste Hamburger auf den Zeltplatz verwiesen wurde, weil er angeblich zu betrunken gewesen sei – was dieser jedoch anstandslos hinnahm. Fuck you, Sweden!

Die musikalische Untermalung der Sause hielt sich in Sachen Krach versus nachvollziehbare Songstrukturen derweil grob die Waage. Die Powerviolencer TJUVKOPPLA fielen mir zumindest an ihrem Merchstand noch mit ihrer genialen Persiflage des ikonischen „Sin egen motståndare“-LP-Covers der schwedischen Band TOTALITÄR (wieso spielten die eigentlich nicht?) auf:

Überhaupt bauten viele Bands ihre Merchstände im Käfig für ein paar Stündchen auf. In Sachen Liveprogramm hellhörig wurde ich noch mal, als eine Reihe Meerjungfrauen auf die große Bühne geschwommen kam und ziemlich krachiges Zeug ablieferte, aber immerhin ein echter Hingucker war. Keine Ahnung, wer das war, aber die Fotos belegen, dass es sich um keine alkohol- oder sonnenstichinduzierte Fata Morgana handelte. Am späten Abend kam es zu einem Zwischenfall, bei dem ein lilafarbener Edding und jemand aus unserer Reisegruppe beteiligt waren und der eigentlich bereits geklärt war, als sich jemand Unbeteiligtes aufspielte und der Rauswurf unseres Freunds die Folge war. Dieser nahm’s jedoch leicht und ging einfach unerkannt wieder rein. Kurz Wogen glätten und gut war’s. Gegen Mitternacht dürfte es gewesen sein, als Flo und mich die Müdigkeit übermannte und wir uns in unser Zimmer zurückzogen. Kai und Eisenkarl hatten sich bereits am späten Nachmittag abgelegt, hatten die Nacht zuvor ja auch fast durchmachen müssen.

The Nightmare Continues

Foto: Kai

Nach einer geruhsamen Nacht, einer erquickenden Dusche und einem stärkenden Frühstück trafen wir unsere Leute beim Mittagsbierchen auf dem Zeltplatz wieder. Eigentlich fand ich es ein bisschen schade, die englischen Anarcho-Pioniere DISORDER verpasst zu haben, erfuhr dann jedoch, dass diese vor dem Kampf mit der Brexit-Bürokratie hatten kapitulieren müssen und somit ausgefallen waren. Fuck you, Boris Johnson! Das „Ey‘ Bro“-Bier war bereits am Vortag ausgegangen und durch „Pripps Blå“ ersetzt worden, das etwas beliebiger schmeckte. BLEACHDRINKER aus Stockholm prügelten einem mit derbem Powerviolence-Geschrote den Schlaf aus den Ohren, der Sänger machte in Sport-BH und Turnhose Frühsport an der Lichttraverse. Die Running Order war an diesem Tag kräftig durchgeschüttelt worden, sodass RAWHEADS aus Stockholm, die eigentlich eröffnen sollten, nun die große Bühne beehrten. Das Trio lenkte meine Aufmerksamkeit mit englischsprachigem HC-Punk/D-Beat-Geprügel, giftigem weiblichen Gesang und einem gewissen Hang zur für diese Musik ungewöhnlichen Eingängigkeit auf sich. Der Drummer goss das auffallend tighte Fundament dieser jungen Band, die mit ihrem Set aber schon wieder durch war, als ich mein Bier ausgetrunken hatte. Anschließend lauschte ich noch kurz bei FIRST IN LINE aus Linköping rein, einer älteren Hardcore-Band. Ich schoss zwar ein paar Fotos, kann mich an den Gig aber ansonsten leider nicht mehr erinnern. Gut möglich, dass es eine der Bands war, die so abartig laut waren, dass es ohne Gehörschutz kaum auszuhalten war und sich tatsächlich der eine oder andere Zuschauer relativ weit hinten positionierte und sich die Ohren zuhielt.

Mit SLÖA KNIVAR folgte tatsächlich mal ‘ne Band, die ich schon kannte – mit meiner anderen Band BOLANOW BRAWL hatten wir mit ihr 2014 mal zusammen in Kiel gespielt. Dort hatte mich die HC-Punk-Combo aus Malmö sehr beeindruckt, weshalb ich auf diesen Gig sehr gespannt war. Zunächst stach ins Auge, dass Sängerin Patricia offenbar einen Image- oder Stilwandel vollzogen hat: Betrat sie in Kiel noch höchst aufgestrapst die Bühne und sparte nicht mit artistischen und akrobatischen Einlagen, machte sie nun mit kurzen Haaren, weitem BODY-COUNT-Shirt und langer Hose einen eher burschikosen Eindruck und beschränkte sich in Sachen Sport auf wenige Moves. Eine ihrer Ansagen übersetzte mir meine des Schwedischen mächtige Freundin: Sie entschuldigte sich für irgendwelchen Ärger, der hinter den Kulissen geschehen sein muss, und begründete diesen mit ihrer mangelhaften Impulskontrolle. Unverändert aber blieb die Musik: Großartiger Hardcore-Punk mit sehr charakteristischem, rotzigem Gesang und überwiegend schwedischen Texten. Am stärksten stach der überaus eingängige Singalong „Depression“ heraus, der von den vorderen Reihen begeistert mitgesungen wurde und sich als veritabler Ohrwurm entpuppte. Zumindest die zweite Songhälfte versuchte ich per Video festzuhalten, versagte dabei aber kläglich, indem ich auf eine falsche Taste tatschte, sodass selbst diese Hälfte nun zweigeteilt ist:

Sei’s drum, SLÖA KNIVAR waren eines meiner Festival-Highlights und hätten hierzulande deutlich mehr Popularität verdient. Fanzinerinnen und Fanziner, knöpft euch diese Band mal vor! Sängerin Patricia ist darüber hinaus auch bei BEYOND PINK aktiv und war im schwedischen Big-Brother-Haus. Wenn das keine Anknüpfpunkte für spannende Interviews sind, weiß ich auch nicht…

Die nächsten Bands ließ ich weitestgehend an mir vorüberziehen und mich dazu überreden, mich an einem Festival-Fanzine-Projekt zu beteiligen, indem ich eine Seite mit meinen Gedanken zum Festival handschriftlich vollklierte. Die Stockholmer Grinder GOD MOTHER erregten immerhin mit den Bühnen- und Zaunklettereinlagen ihres Shouters für Aufsehen – bis eine schwedische Legende im Billing von 1:30 auf 18:10 Uhr wegen des NUKKE-Ausfalls vorgerückt war und an die kleine Bühne lockte: ASOCIAL hatten in den 1980ern ein paar Tapes und Siebenzöller veröffentlicht und sich irgendwann sang- und klanglos aufgelöst. Seit 2017 sind sie zurück und holen nach, was sie damals versäumten: Alben aufnehmen! Drei Stück mit derbstem D-Beat/Crust-Gemetzel in schwedischer Sprache sind seitdem erschienen. Die meisten Songs werden in rund zwei Minuten durchgepeitscht und keine Gefangenen gemacht. Live präsentierten sich die in aller Punkwürde gealterten Herren topfit und angriffslustig. Der kehlig-heiser brüllende Shouter erweiterte den auf der kleinen Bühne ohnehin schon krachigen Bandsound bewusst um Noise-Elemente, indem er Monitorbox-Rückkopplungen mit seinem Mikro erzeugte. It’s not a bug, it’s a feature. Der permanente ASOCIAL-Aggrosound knallte einem endgültig die Synapsen durch – und Kai + DK wurden erstmals beim gemeinsamen Pogo gesichtet.

Eigentlich hätte ich mich nun gern mit etwas BEACH BOYS o. ä. erholt, doch das Fragile Mountain kannte keine Gnade und schickte FREDAG DEN 13:E aus Göteborg ins Rennen. Neo-Crust, also Crust mit bischn (düsterer) Melodie, gab’s nun auf die Omme. Beim Shouter wächst das Haupthaar unten am Kopf statt oben, was zu einem imposanten Rauschebart führte. Auch wenn ich mich nicht wieder vor die Bühne begab, sondern im Käfig dem Biergenuss frönte, empfand ich die Performance als angenehm und atmosphärisch, vor allem auch passend zu den Wetterverhältnissen. Die Sonne verschwand immer öfter hinter dicken Wolken und der Wind blies immer eisiger, sodass es mir mit T-Shirt und Kutte langsam zu kalt wurde. Der Soundtrack dazu kam von der Bühne. Die Band hat mehrere Alben draußen; wer auf diesen Sound steht, sollte die mal anchecken. Kai trieb sein Unwesen wieder vor der Bühne und schwang die morschen Knochen. Im Mob glaubte er, DK wiederentdeckt zu haben, nahm ihn liebevoll in den Schwitzkosten und rubbelte ihm die Fingerknöchel über die Glatze – um dann festzustellen, dass er jemand ganz anderes in der Mangel hatte und dieser entsprechend irritiert dreinblickte. „Irrtum“, sprach der Hahn und stieg von der Ente. Kai hatte übrigens in all seiner Altersweisheit seine EC-Karte zu Hause gelassen. Zum Kauf von Verzehrmarken gab er mir deshalb Bargeld in Euro, damit ich ihm für den jeweiligen Betrag in schwedischen Kronen einige per Zahlung mit meiner Karte besorgte (in Schweden wird alles mit Karte gezahlt, da brauchste kein Geld im Vorfeld wechseln). Gespräch am Nachmittag des Vortags: „Wie viele Biermarken willste denn? Mit fünf kommste nich‘ weit.“ – „Denn mach ma‘ zehn.“ Gesagt, getan. Offenbar hatte er sich im direkten Anschluss pennen gelegt, denn am nächsten Tag konnte er sich daran gar nicht mehr erinnern und wunderte sich über die zehn Biermarken in seinem Besitz…

Der Saufkäfig war mittlerweile prallgefüllt, speziell für diesen hochkarätig besetzten Samstag schien noch einmal wesentlich mehr Publikum gekommen zu sein. Der Soundcheck einiger älterer Herren auf der kleinen Bühne hatte mich neugierig gemacht, also ausgetrunken und hin da, denn THE BRISTLES, weitere schwedische Punk-Pioniere von Beginn der ‘80er, bliesen zum Angriff auf die Gehörgänge. Ihr bewusst rau und ungehobelt gehaltener, schnell gespielter Punkrock mit UK-’82- und Oi!-Punk-Einflüssen sowie englischen Texten bot einen schönen Kontrast zu FREDAG DEN 13:E und zündete sofort. Entsprechend wurde die Band gefeiert. Schönes Ding, wenn mir auch anschließend gut die Ohren klingelten…

Noch während ich am nächsten Bierchen nippte, drangen überraschend ungewöhnliche Klänge an mein Ohr: Die belgischen COCAINE PISS mit garagigem Sound und überdreht klingender Sängerin, mal fast mit Pop-Appeal, dann wieder sperriger oder aggressiver, hysterischer, kaputter. Die Texte englisch, gern wie z. B. in „Fuck This Shit“ aufs Wesentliche beschränkt, die Songs kurz bis ultrakurz. Bei Wind und etwas P.A.-Hall/-Reverb hallte die durchdringende Stimme der Sängerin übers ganze Feld, sodass sich immer mehr Neugierige vor der Bühne versammelten. Lange hielt es die Sängerin nicht auf ihr, dank des extralangen Mikrokabels konnte sie Ausflüge ins Publikum (und über es hinaus) unternehmen und sich im Gras wälzen. Sehr eigenständiges und ebenso unterhaltsames Zeug.

Die nächsten Bands bekam ich nicht so recht mit; Flo und ich beschlossen kurzerhand, kurz zurück zur Bude zu gehen, damit ich auf der Keramik thronen und wir uns etwas Wärmeres überziehen konnten, um DISCHARGE später ohne Zähneklappern genießen zu können. Als wir zurückkamen, war Holler zur Gelbweste geworden und begrüßte uns am zweiten Einlass. Er hatte eine Schicht innerhalb der Fragile-Mountain-Crew übernommen, weil der langsam das Personal ausging. Und er hatte Hiobsbotschaften für uns parat: In der kurzen Zeit, in der wir weg waren, hatten sich die Ereignisse überschlagen. Jemand aus unserer Reisegruppe hatte im Brausebrand begonnen, die Ordnungsamt-Leute zu necken, welche wiederum keinerlei Spaß verstanden und ihn gleich hinauswarfen. Er kam zurück und sorgte damit offenbar für helle Aufregung, denn nun hatte es die unheilige Dreifaltigkeit aus Ordnungsamt, dem Fragile-Mountain-Crew-Typen, der uns Freitagmorgen in Empfang genommen hatte (und schon die ganze Zeit ein kritisches Auge auf uns zu werfen schien), und den nun erstmals auftauchenden Bullen (!) auf ihn abgesehen – und nicht nur auf ihn, denn plötzlich wurde jemand anderer unserer Gruppe in den Bullenwagen gezerrt. Er erkannte jedoch den Ernst der Lage, blieb ruhig und durfte schließlich wieder gehen. Eine Verwechslung, wie sich später herausstellen sollte. Beide „Delinquenten“ blieben anschließend am bzw. im Zelt, doch zuvor hatte es manch böses Wort zwischen Teilen unserer Gruppe und dem Crew-Mitglied gegeben. Die Folge: Köln-Kalk-, Quatsch, Fragile-Mountain-Verbot und ein wohl endgültig zerschnittenes Tuch zwischen uns und diesem einen Crew-Mitglied. Das wäre sicherlich vermeidbar gewesen, andererseits wird hier offenbar für alles, was in Hamburg eher noch weggelächelt oder deeskaliert würde, gleich ein Fass aufgemacht. Flo und ich hatten das alles jedenfalls verpasst und hörten nun den BRÜNNER TODESMARSCH aus dem tschechischen Brünn dreckig und böse von der kleinen Bühne crustlärmen. Die ebenfalls aus Tschechien stammenden INTERPUNKCE dürften ebendort im direkten Anschluss – erstmals wechselte man sich nicht mit der großen Bühne ab – den Geschwindigkeitsrekord des Festivals aufgestellt haben. „Really fast and crazy hardcore/punk/crust“, hieß es auf der Fragile-Mountain-Website und traf es auf den Punkt.

Nun also der Festival-Headliner, die legendären DISCHARGE, jene Briten, die den D-Beat und damit ein ganzes Subgenre erschufen bzw. zahlreiche Epigonen auf den Plan riefen – und die ich – unfassbar! – bisher kein einziges Mal live gesehen hatte. Die Urväter punkiger Soundtracks zum Untergang. Seit 2014 ist BROKEN-BONES-Sänger JJ auch der DISCHARGE-Sänger, die Band erhält seither wieder überwiegend positive Kritiken, sowohl für aktuelles Material als auch für ihre Liveshows. Der Grund dafür wurde hier deutlich: Eine bestens eingespielte, topfitte Band mit drahtigem, hungrigem Sänger, der sich ideal einfügt. JJ führte mehr als souverän durch ein Best-of-Set, der Sound war zudem perfekt (gar zu perfekt, wie der eine oder andere bekrittelte) und die Stimmung im Publikum gut, wenngleich sich bei manchem – Blog-Chronisten nicht ausgenommen… – ein paar Ermüdungserscheinungen einzustellen schienen. Bei manch Clubgig mit nur einer oder zwei Vorbands geht’s sicherlich noch mal ganz anders zu. Gitarrist Tezz nannte „Ain’t No Feeble Bastard“ einen seiner Favoriten, „Never Again“ wurde aus etlichen heiseren Kehlen mitgesungen und für den letzten Song (Welcher war das? Ich weiß es nicht mehr.) bat man einen befreundeten Gastsänger auf die Bühne. Ich weiß nicht genau, wie lange DISCHARGE spielten, aber von mir aus hätte es gern noch ‘ne halbe Stunde länger sein dürfen. Zugabe-Rufe verhallten leider ungehört – vielleicht, weil diese auf Schwedisch waren… Besagter Gastsänger flog später, wie wir am nächsten Morgen von Holler erfuhren, übrigens auch noch raus. Unsere Freunde schienen also in bester Gesellschaft zu sein 😀

Don’t Pay The Ferryman

Foto: Kai

Die paar weiteren Bands, die noch folgte, u. a. LOWEST CREATURE, auf die ich eigentlich Bock gehabt hätte, sparten wir uns und begaben uns stehend k.o. und vom ungemütlichen Wetter geschafft nach einem letzten Absackerbierchen in die Koje, um am nächsten Morgen pünktlich wie die Maurer um 9:00 Uhr mit gepackten Taschen am Zeltplatz einzutreffen. Als auch der Letzte aus seinem Schlafsack gekrochen gekommen war, wurde abgebaut und gehofft, dass das Auto noch anspringen würde. Das tat es, also rein mit dem ganzen Plunder inklusive uns und zeitig genug Richtung Fähre aufgebrochen, die wir diesmal – obwohl wir, wie uns die Dame am Check-in mitteilte, für die Größe des Vehikels eigentlich die falschen Tickets gebucht hatten – auch bekamen. Dort fläzten wir uns chillig in den Restaurantbereich, aßen, tranken, die ersten griffen schon wieder zum Bier, andere holten noch etwas Schlaf nach. Die über dreistündige Überfahrt verlief zwischenfallfrei und anschließend brachte uns Helldriver T-Check alle, fiesen Wolkenbrüchen und Aquaplaning zum Trotz, sicher von Frederikshaven zurück nach Hamburg. Manch einer verging sich dabei am noch immer in rauen Mengen vorhandenen Dosenbier und obwohl ich gar nicht mittrank, wurde ich für jede Pinkelpause verantwortlich gemacht: „Halt mal an, Günni muss pissen!“ wurde zum Running Gag…

Das war also das erste größere Abenteuer dieses Sommers. Eine sehr gewöhnungsbedürfte Veranstaltung, aufgrund der Gesetzeslage aber anscheinend in Schweden so üblich. Das barg Konfliktpotential. Hatte man sich erst einmal damit abgefunden und sich auf das Konzept mit dem Käfig zwischen beiden Bühnen eingegroovt, konnte man eine Menge interessanter Bands in unheimlich geballter Form erleben und nicht zuletzt einen guten Überblick über die aktuelle schwedische Härtnerpunk-Subszene erlangen. Sich mehr als die Hälfte halbwegs konzentriert reinzuziehen, dürfte aber kaum jemand geschafft und jegliche Aufmerksamkeitsspanne überstrapaziert haben. Wasserklosets gab’s keine, dafür war das seitanbasierte Essen ok und die Getränkepreise mit knapp 3,- EUR für 0,33 l Bier oder Cider moderater, als ich es von Schweden erwartet hatte. Auf einer liebevoll gestalteten, zweisprachigen Webpräsenz wurden sämtliche Bands vorgestellt und verlinkt, was sich insbesondere im Nachhinein bei der Festivalreflektion als angenehmer Service erwies.

Foto: Christoph

An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön an den GBG Punkpöbel für die Einladung sowie an alle, die uns unterstützt haben, allen voran Helldriver T-Check mit seiner schier unfassbaren Ausdauer und Geduld auf der Hinfahrt, an Carlo und DK für die Merch-Offensive, an Flo für die Fotos unseres Gigs sowie alle Mitglieder unserer Reisegruppe für die überwiegend geile Zeit! Respekt an die GBG-Punks, dieses Festival allen Widrigkeiten zum Trotz gestemmt zu haben! Die Regel bestätigenden Ausnahmen sind weiter oben beschrieben. Ins Knie ficken sollen sich hingegen die schwedischen Alkoholgesetze und Festivalauflagen bzw. diejenigen, die sie zu verantworten haben. Was für ein idiotischer Kasperkram, insbesondere angesichts des Umstands, dass die Regierung die Bevölkerung in Sachen Covid-19-Schutz weitestgehend auf sich allein gestellt ließ. Während man dabei an die Eigenverantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger appellierte, spricht man sie ihnen in Bezug auf Alkohol ab. Das passt alles nicht so recht zusammen…

21.06.2022, Bambi galore, Hamburg: EXCITER + VULTURE + BÜTCHER

Pfundiger Metal

Der totale Speed-Metal-Endzeit-Overkill fand an einem Dienstag statt. EXCITER und VULTURE hatte ich beide schon mal im Bambi gesehen, BÜTCHER hingegen fatalerweise noch nie irgendwo! Da ich vor ca. zwei Jahren ihre beiden Alben massiv für mich entdeckt hatte, führte an diesem Konzertabend kein Weg vorbei. Da es zudem mein erstes Metal-Konzert im Bambi seit Jahren werden sollte, nahm ich mir kurzerhand den Mittwoch frei, um nicht gestresst auf den Chronographen stieren oder nach dem letzten Akkord ohne Absackerbierchen zur Bahn eilen zu müssen.

Die belgischen BÜTCHER spielen diabolischen, schwarzen Speed Metal der guten alten Nackenbrecherschule, haben 2017 und 2020 klasse Alben veröffentlicht und mittlerweile den vakanten Bassposten mit Max Mayhem von EVIL INVADERS besetzen können. Geil! Pünktlich wie die Maurer Schlachter ging’s dann auch los, obwohl sich Sänger R Hellshrieker vorher böse den Kopf gestoßen haben muss – der war ganz blutüberströmt… Nach dem Intro aus der Konserve gab’s von der in Kunstnebel gehüllten Bühne aus musikalisch erwartungsgemäß kräftig auf die Mütze: Pfeilschnelles Edelmetall mit Hooks und paar Melodien, vor allem aber kräftigem Thrash- und auch Black-Metal-Einschlag. Frischgewetztes Fleischermesser trifft auf Fleischhammer. Mitunter hat der Sound sogar ein bisschen was von alten MERCYFUL FATE. R Hellshrieker spielte Luftgitarre auf seinem Mikroständer und präsentierte immer mal wieder das metallene Speed-Metal-Wheel aus der Bühnendeko, das er in die Luft reckte. Generell wurde viel evil gepost, zugleich perfekt abgeliefert. Drummer LV Speedhämmer ist ein guter Techniker, der Geschwindigkeit ideal mit Wumms zu kombinieren versteht und dabei stets souverän in der Spur bleibt. „45 rpm Metal“ ist ein Songtitel und das Motto zugleich, lediglich beim überlangen „666 Goats Carry My Chariot“ bin ich ein bisschen raus – dafür hätten von mir aus gern drei weitere Speed-Attacken geritten werden können. Ein sehr vielversprechendes, bisher unveröffentlichtes Stück wurde den hungrigen und bängenden Speedfreaks zum Fraß vorgeworfen und für ein Zwischendrintro noch mal der Konservensound bemüht, bis am Ende noch eine im wahrsten Sinne des Wortes schnelle Zugabe drin war: „Speed Metal Attack“! Yes! BÜTCHER sind düster, böse, schnell – und catchy as hell!

Weniger catchy, dafür etwas vertrackter und technischer sind die deutschen Speedster VULTURE, die mit zwei Gitarristen Riffs, Riffs und nochmals Riffs liefern. Auch VULTURE gönnten sich Intro und Intermezzo, ansonsten wurde mit der scharfen Edelstahlklinge filetiert, was das Zeug hielt. Die Gitarristen kamen im Partnerlook und mit gleicher Klampfe, und wer war das da am Bass? Abermals Max Mayhem! Doppelschicht, weil auch der eigentliche VULTURE-Basser verhindert war. Respekt! Ich war mittlerweile zum Bühnenrand vorgerückt und ließ mir bereitwillig vom tighten Riffgewitter die Rübe abschrauben.  Der VULTURE-Gig schien mir weniger durchchoreographiert als der von BÜTCHER und hier durfte auch mal auf der Bühne gelächelt werden. Die brandneue „High Speed Metal“-Single wurde einem ebenso um die Ohren geblasen wie als letzter Song „Metal Militia“ aus seligen METALLICA-Tagen. Astreine Live-Band, die sich ordentlich ins Zeug legt. Dominierten bei BÜTCHER die Rot- und Lilatöne während der Lightshow, bekamen VULTURE kälteres blaues und grünes Licht, was gut zum Sound passte.

Niemanden mehr etwas beweisen müssen die kanadischen Speed-Metal-Pioniere EXCITER um den kreischenden Drummer Dan Beehler, der zusammen mit Originalbassist Allan Johnson und seit 2018 Gitarrist Daniel Dekay eine starke Inkarnation der Band am Start hat. Das Material der ersten drei Alben zählt zu den subgenredefinierenden Heiligtümern der Szene und bildete auch den Materialkanon dieses Konzerts, aus dem die großen Hits wie „Violence & Force“, „Stand Up and Fight“, „Heavy Metal Maniac“, „Victims of Sacrifice“, „Pounding Metal“ oder „Long Live The Loud“ als Quasi-Standards gezockt und begeistert mit geraister Fist mitgesungen wurden. Im Gegensatz zum letzten EXCITER-Gig im Bambi fehlten diesmal leider „Feel The Knife“ und „Break Down The Walls“, dafür überraschte man mit einer „Beyond the Gates of Doom“-Version zum Niederknien! Möglicherweise war der Song auch schon 2019 im Set, stach dort für mich aber gar nicht so sehr heraus. EXCITER klangen immer schon etwas dreckiger, erst recht, seitdem Beehler nicht mehr wie in jungen Jahren die höchsten Töne problemlos trifft. Das verleiht EXCITER aber diesen besonderen, rustikalen Holzhacker-Metal-Charme, der mit der Spielfreude der Saitenfraktion und den direkt in Ohr und Nacken gehenden, erinnerungswürdigen Songs einhergeht. Besonders live macht das Laune, vor allem, Beehler mit Popelbremse und explodierter Frisur dabei zuzusehen, wie er vom Drumraiser aus nicht nur die Doppelbelastung meistert, sondern auch mit dem Publikum interagiert und es anpeitscht. Dieses reagierte mit „Exciter! Exciter!“-Sprechchören. Das ist ungekünstelter, authentischer Oldschool-Metal von Überzeugungstätern, der noch immer jeden Club zum Kochen bringen dürfte. Insgesamt war das Set um einige Songs kürzer als 2019, als EXCITER mit nur einer weiteren Band zusammenspielte, was Beehlers Stimme indes ganz gut zu tun schien. Das Trio verabschiedete sich erneut mit der MOTÖRHEAD-Coverversion „Iron Fist“, darf von mir aus aber gern alsbald wiederkommen – vielleicht ja mal an einem Freitag oder Samstag? Erfreulicherweise war diesmal auch der Merchandise-Stand ordentlich bestückt, sodass ich mich nicht lumpen ließ und mir ein geschmackssicheres Shirt – neben der LUZIFER-LP (VULTURE-Nebenprojekt) – mitnahm. Sehr viel besser lässt sich so’n Dienstagabend wohl kaum verbringen.

18.06.2022, Altonale, Hamburg: NO SPORTS + DAS KARTELL + RADAU

Das offizielle und öffentliche Stadtteilfest Altonale kam für mich dieses Jahr überraschend, erst am Samstagmorgen erfuhr ich davon. Also nach dem Frühstück erst mal den riesigen Flohmarkt abgeklappert. Auf dem Platz der Republik sollten dann diverse Bands spielen, von denen man mir die Ska-Punk-Band SICK LEAVE nahelegte. Um mich mit Freundinnen und Freunden zu treffen, schlug ich dort bereits am Nachmittag auf und wurde Augen- und Ohrenzeuge der Rockband RADAU, die, irgendwo zwischen ROLF ZUCKOWSKI und RANDALE anzusiedeln, Musik speziell für Kinder macht. Die waren an diesem Tag bei bestem Open-Air-Wetter auch reichlich zugegen. RADAU transportierten kindgerechte und nicht immer 100%ig pädagogisch wertvolle, daher für die Zielgruppe umso reizvollere Botschaften in eingängigen Songs bei glasklarem Sound. Ihre Show reicherten sie mit diversen Mitmachspielen an, schlüpften in verschiedene Kostüme und brachten ihre jungen Fans dazu, sich kräftig auszupowern, während die Eltern oder Aufpasser(innen) sich in Ruhe am Bierchen laben konnten. Als ich anregte, auch in unsere Shows solche Mitmachspielchen zu integrieren, schlug Kai vor, mich als Ball ins Publikum zu werfen, woraufhin ich von dieser Idee wieder Abstand nahm. Schön zu sehen: Die jüngsten kaufen noch CDs! Zumindest von RADAU.

Anschließend tat sich ‘ne ganze Weile nix auf der Bühne, bis die Ansage kam, dass SICK LEAVE leider krankheitsbedingt kurzfristig absagen hatten müssen. So konnte DAS SKARTELL in Ruhe aufbauen und schließlich seinen deutschsprachigen, modernen Ska präsentieren. Das ist ja nicht so ganz meine Richtung, wenngleich sie mir diesmal etwas besser als einst auf dem Elbdisharmonie-Festival gefielen. Technisch ist das, was die neun Musiker da fabrizieren, alles knorke, musikalisch ist’s mir – wie bei so vielen Genrekollegen auch – hingegen meist zu fröhlich und zu clean. Mir fehlt da neben etwas Dreck der melancholische Touch (nicht nur) des Two-Tone, der erst erklang, als die Berliner als Zugabe MR. REVIEW coverten. Etlichen Besucherinnen und Besuchern gefiel’s aber und als Begleitmusik zum sonnigen, entspannten Open-Air-Umtrunk war das nun auch wirklich nicht verkehrt.

Den DAS-KARTELL-Gig hatte ich im Vorfeld übrigens genauso wenig auf dem Schirm wie den des Headliners NO SPORTS. Nachdem ich davon erfahren hatte, war klar, dass der Abend etwas länger werden würde. Die Stuttgarter zählen zu den Pionieren der deutschen Ska-Szene, das Debüt-Album „King Ska“ (1989) und die EP „Stay Rude Stay Rebel“ (1990) genießen Kultstatus. Insbesondere das Titelstück letztgenannter Veröffentlichung avancierte zu einer der Hymnen der antirassistischen Skinhead-Bewegung, auf die der Text auch eindeutig Bezug nimmt. Eben jene Szene verzieh aber auch den einen oder anderen Stilwechsel der Band nicht, die bis auf Bandkopf D. Mark Dollar zudem eine hohe Mitgliederfluktuation aufwies. Live gesehen hatte ich NO SPORTS noch nie, Ende der ‘80er/Anfang der ‘90er war ich zu jung und 2002 die Band bereits aufgelöst, um ein paar Jahre später als NU SPORTS zurückzukehren. Offenbar bereits seit 2013 ist man als NO SPORTS aber wieder aktiv, hat 2021 gar ein Comeback-Album veröffentlicht. In sechsköpfiger Besetzung mit Quetschkommode/Keyboard-Doppelbelastung für die einzige Frau in der Band und D. Mark Dollar an Gesang und Gitarre konnte man auf ein bereits gut eingetanztes, gemischtes Altona-Publikum zurückgreifen – und lieferte zu meiner Überraschung erstklassig ab. NO SPORTS ließen sich nicht lumpen und spielten ausdauernd ein recht langes Set, das mit den bekannten Hits gespickt war, „Stay Rude Stay Rebel“ nicht vermissen ließ, aber auch einen brandneuen Song beinhaltete, der ziemlich vielversprechend klang. Nicht zuletzt durchs Gesabbel und Getrinke mit dem einen oder anderen Bekannten (und vielleicht auch, weil mir die Sonne den ganzen Tag auf den Schädel gebrannt war und das Bier seine Wirkung zeigte…) war meine Aufmerksamkeitsspanne irgendwann erschöpft, will sagen: Das Konzert verfolgte ich nicht sonderlich konzentriert, nahm es aber als sehr angenehme Beschallung wahr und könnte mir vorstellen, dass das in ‘nem verschwitzten Club mindestens genauso gut gekommen wäre.

Und das alles nicht nur vollkommen unerwartet, sondern auch noch für umme mitten in Altona – das ist schon ziemlich geiler Scheiß. Nächstes Jahr dann SELECTER, MADNESS und THE SPECIALS?

14.06.2022, Stadtpark, Hamburg: GIANNA NANNINI

Ich war schon als Kind von der rauen Stimme der italienischen Rock-/Pop-Sängerin Gianna Nannini und ihrem zuweilen burschikosen Auftreten fasziniert. Ihre musikalische Bandbreite reicht von Chansons über Pop-Rock mit Elektro-/Synthie-Einflüssen bis hin zu E-Gitarre-dominiertem Hardrock und Indie-/Alternative-Einflüssen. Ich liebte – und liebe! – Songs wie „Bello E Impossibile“, „Hey Bionda“ und „Un Ragazzo Come Te“, „Hey Bionda“ war gar eine meine allerersten 7“-Singles, mir seinerzeit von meinen Eltern gekauft worden. Als Erwachsener, weit nach Abschluss der Punk- und Metal-Sozialisation und mittlerweile in der „Was gab’s denn da noch so alles?“-Kindheits- und Jugendaufarbeitungsphase gelandet, konnte ich mich dank der breiten Verfügbarkeit im Internet durch weite Teile der Nannini-Diskographie hören, fand viel Schönes und stellte fest, dass die ‘80er-Alben „Profumo“ und „Malafemmia“, flankiert von den Live-Alben „Tutto Live“ und „Giannissima“, für mich am besten, um nicht zu sagen: hervorragend funktionieren. Gianna hatte schon immer eine rebellische Ader, setzte sich für Frauenrechte ein und war fürs eine oder andere Skandälchen gut. Auch das passt also.

Wenn nicht gerade eine Pandemie wütet, findet jährlich eine Saison mit Open-Air-Konzerten im Hamburger Stadtpark statt, bei der das Programm ungefähr von Mainstream bis Indie reicht. Vor etlichen Jahren, als jüngerer Punk, lauschte ich dort mal von außen BILLY IDOL, ging mangels der nötigen Finanzen aber nicht hinein. Mein erster wirklicher Besuch ließ länger als geplant auf sich warten, denn natürlich kauften meine Liebste und ich auch dieses Ticket kurz vor Pandemieausbruch, sodass sich der Konzertbesuch um rund zwei Jahre verzögerte… Dafür spielte an diesem sonnigen Dienstag aber das Wetter perfekt mit. Das Konzertgelände ist sehr schön: ein Rund mit Verzehrbuden und Toiletten im äußersten Kreis, abgetrennt durch hohe Hecken mit zahlreichen Durchgängen, die Gedrängel vermeiden. Im Inneren zur Bühne hin immer leicht abschüssiges Gelände grob im Amphitheater-Stil, sodass gute Sicht kein Problem ist. Und auch noch mal paar Bierbuden.

Auf dem Hinweg waren uns schon zahlreiche Picknicker(innen) begegnet, die es sich vorm Gelände mit Snacks und Getränken bequem gemacht hatten – ein bisschen wie ich damals, nur war’s da schlicht Dosenbier. Der Einlass ging superflott. Um 19:00 Uhr sollte es losgehen. Wir schauten uns nach Essbarem um. Bratwurst mit Brötchen ohne Brötchen, weil diese ausgegangen waren. Hm. Vegetarisch war das auch nicht. Die Burritos sahen ganz gut aus, schlugen aber mit unverschämten 8,- EUR zu Buche, und fürs Sättigungsgefühl musste Bier nachgekippt werden. Memo: Nächstes Mal auch vorher im Park picknicken. Das Gelände war gut gefüllt, aber nicht ganz ausgefüllt – zum Glück, wie jemand am Bierstand anmerkte, bei FOREIGNER sei es zuletzt ein heilloses Gedrängel gewesen. Hier ist’s entspannt. Wir suchten uns ein Plätzchen in Bierstandnähe und warteten, bis es um 19:18 Uhr tatsächlich losging: Ein quickfideles 68-jähriges Geburtstagskind (Sie hatte an diesem Tag Geburtstag!) spurtete auf die Bühne, ihr Fanclub in den ersten Reihen war mit Partyhütchen und Luftballons ausgestattet, stimmte irgendwann zwischen zwei Songs „Happy Birthday To You“ an, überreichte Blumen und war generell die ganze Zeit ganz aus dem Häuschen. Sozusagen der Pogomob der Veranstaltung.

Gianna und ihre Band stiegen mit „L’aria sta finendo“ vom aktuellen 2019er Album „La differenza“ ein, das ich mir ehrlich gesagt noch gar nicht angesagt hatte. Der Song gefällt mir, doch es sollte einer von ich glaube nur zwei brandaktuellen Songs bleiben. Der überwiegende Teil des 20 Songs umfassenden Sets ging in Richtung Best of, „Primadonna“, „Profumo“, „Ragazzo dell’Europa“ und „I maschi“ hießen die Hits, ferner natürlich „Scandalo“, „Hey Bionda“, „America“, „Latin Lover“ und „Bello E Impossibile“. Wunderbare Stücke mit großen Melodien, etwas Pathos und ganz viel Ausdruck in Giannas Stimme bei einwandfreiem Sound. „Bello…“ klang wieder näher an der Studioversion und weniger punkig als sie ihn zwischenzeitlich gemäß YouTube-Clips gespielt hatte. Die Kinderchöre schienen mir aus der Konserve zu kommen, alles andere dürfte die fünfköpfige, international besetzte Band aber live intoniert haben. Die Gitarristen wechselten je nach Song ihr Gitarre, Gianna ihre Jacke mehrmals und vermied in ihren Ansagen jedes englische Wort.

Bis auf ein paar Worte in gebrochenem Deutsch ging’s hier ausschließlich italienisch zu, was nicht nur meine Mitsingfähigkeiten arg einschränkte. Manch Refrainzeile konnte Gianna dennoch rein vom Publikum singen lassen. Dieses wies ein erhöhtes Durchschnittsalter auf, oder um es positiver zu formulieren: Es bestand aus zahlreichen seit Jahrzehnten loyalen Fans. Und darunter waren neben augenscheinlich völligen Normalos auch Rockfans mit AC/DC-Shirt, ein Metal-Shirt habe ich auch gesichtet, jedoch keine Betrunkenen, keine Rempler oder ähnliche Klientel. Verdientermaßen erhielt das Hamburger Publikum einen mehrere Songs umfassenden Zugabenblock, darunter „Nel blu, dipinto di blu“, besser bekannt als „Volaaaareeee!!! Ooohoo!!!“, einer meiner ewigen Favoriten: die herzergreifende Ballade „Meravigliosa creatura*“, und ganz am Schluss der ultimative Flashback zur Fußball-WM 1990 in Italien, der von Giorgio Moroder komponierte und von Nannini seinerzeit zusammen mit Edoardo Bennato gesungene offizielle WM-Song „Un’estate italiana“. Hach. Die Urlaubsstimmung hatte ihren Höhepunkt erreicht, wenngleich wir am nächsten Tag wieder zur Maloche mussten.

Ok, kein „Un Ragazzo Come Te“, kein „Kolossal“, aber meckern kann ich über die Songauswahl nicht.  Blöd nur, dass ich ausgerechnet während „Hey Bionda“ auf dem Klo war (ähnlich wie kürzlich während „Heart“ bei den PET SHOP BOYS – offenbar pinkle ich Hits), aber wie auch immer: 68 muss das neue 42 oder so sein, jedenfalls hatte Gianna ordentlich Pfeffer im Hintern, klang ihre Stimme herrlich verraucht wie eh und je und war die ganze Band in bester Spiellaune. Großen Respekt vor dieser Frau!

Einen Absacker gab’s anschließend noch im Biergarten des Lesecafés des Parks, wo man sich aufs Konzertpublikum mit entsprechender Musik aus der Anlage und Bierbestellschnellstraße eingerichtet hatte. Für mich war’s mal wieder ein etwas anderes Konzert, das sich gelohnt hat und schlicht Spaß machte – nicht nur, weil es mir eine ‘80er-Hitdosis nach der anderen injizierte. An meine fixe Idee, Nannini mal live sehen zu wollen, kann ich jetzt ‘nen Haken machen. Und wenn’s nach mir geht, muss es nicht das letzte Mal gewesen zu sein. Ich glaube, ich werde mich die Tage mal ein wenig durch ihr Spätwerk hören…

*) Was sich wie eine fiese Beleidigung oder der Name einer Death-Metal-Band anhört, heißt übersetzt nichts anderes als „Wunderbares Wesen“.

10. + 11.06.2022, Gaußplatz, Hamburg: GAUSSFEST 2022

Endlich wieder Gaußfest! Das Open-Air-Festival des Wagenplatzes im Herzen Altonas mit anschließendem (traditionell ohne mich stattfindendem, weil sonntäglichem) Fußibuff hatte ich 2019 aus irgendwelchen Gründen verpasst, die vergangenen beiden Jahre war’s pandemiebedingt ausgefallen. Pünktlich zum 30-jährigen Bestehen des Platzes (Glückwunsch!) aber lud man wieder bei freiem Eintritt und Inflation, Krise und Krieg zum Trotz stabilen Preisen (Halber Liter kaltes Markenbier: ein schlapper Euro! Warme Mahlzeit: ein schlapper Euro!) zur rustikalen Punkparty. Freitag war ich erst noch mit DMF im Proberaum, wo’s bereits feuchtfröhlich zuging. Besuch war da, die Kannen kreisten. In kleiner Gruppe ging’s schließlich auf den Platz, wo mit LIQUOR SHOP ROCKERS und FRONTALANGRIFF leider gleich zwei Bands krankheitsbedingt hatten absagen müssen.

Die Berliner SPLITTIN‘ IMAGE hatten wir verpasst, über sie war nur Positives zu vernehmen. Das kolumbianische Frauentrio POLIKARPA Y SUS VICIOSAS hingegen fing gerade an und zockte begeisternden, mitreißenden Hardcore-Punk mit wechselndem Gesang in Landessprache, der zurecht schwer abgefeiert wurde. Besonders die Drummerin hatte ein sehr brutales Organ. Ich war von der Menschenmasse und den vielen bekannten Gesichtern erst einmal überfordert – zu lange war so etwas zuletzt her gewesen. Eigentlich hatte ich mir auch vorgenommen, nicht so doll zu machen, um am nächsten Tag fit und pünktlich zu erscheinen, aber das war natürlich wieder leichter gesagt als getan. Hier ‘nen Plausch, da ein Anstoßen, noch ‘n Bierchen, na klar…

Und dann folgte auf den famosen Gig der Kolumbianerinnen zu allem Überfluss das Hamburger Elektropunk-Duo KID KNORKE & BETTY BLUESCREEN, das überraschend eingesprungen war. Mit seinen Elektroklängen polarisierte es, brachte diejenigen, die ihm zusprachen, aber zum Tanzen und überzeugte nicht zuletzt mit seiner Show voller Laser und Blingbling bei mittlerweile nächtlichem Firmament. Mit meiner gewissen Schwäche für Synthiepop in Kombination mit meiner Partylaune und entsprechendem Pegel lief mir das gut rein, zumal offenbar tatsächlich viel kreative Arbeit und Liebe zum Detail dahintersteckt. Machte Laune und traf den Nerv vieler Besucherinnen und Besucher, die sich den Stock aus dem Arsch gezogen haben. Anschließend gelang mir glücklicherweise der Absprung nach Hause.

Mit nur leichtem Kater traf ich ohne meine Gruppe vom Vortag, dafür mit meiner Liebsten gegen 18:00 Uhr ein, labte mich am Kokosgemüsecurry und vernahm die irritierenden ersten Klänge des Darmstädter Folklore-Duos THE INVASION. Phoenix erinnerte mich mit seinem Auftreten an Dennis Rodman, seinen Bass spielte er wie ‘ne Gitarre und jaulte dazu in schrägen Tönen. Drummer Bubblegumtrash spielte den Beat dazu und verfiel hin und wieder in schön räudiges Geschrei. Die Performance hatte Freejazz-Charakter, manch bekannte Melodie von Paulchen Panther bis zum House of the Rising Sun wurde vergewaltigt. Immer mal wieder bahnte man sich durchs Publikum, mal einer auf dem anderen huckepack, meist jedoch Phoenix allein, der mit dem Hals seines Instruments die um die verzückt tanzenden Schmerzbefreiten herumstehenden und mal ungläubig, mal fassungslos dreinblickenden, oft aber auch debil grinsenden Schaulustigen umzumähen Gefahr lief. Am Schluss des auffallend langen Sets war reichlich Konfetti geworfen worden – und ich am meisten schockiert darüber, dass Phoenix tatsächlich zwischendurch seinen Bass immer mal wieder nachgestimmt hatte. THE INVASION seien nicht repräsentativ für unsere Musik, erklärte ein Stammgast seinem offenbar erstmals mitgekommenen, verdutzten Besuch. Das kann man so sehen.

Der Trend geht zum Duo, denn auch die französischen AL’HYENA LUNA waren nur zu zweit und damit bereits der dritte solche Act auf diesem Festival. Die Sängerin und Bassistin spielte ihr Instrument ebenfalls mehr wie eine Gitarre, dazu ein Drummer – das war’s. Der Sound: Angepisster D-Beat. Dem Bandcamp-Profil nach zu urteilen gab‘s zumindest mal einen Dritten im Bunde. Und tatsächlich fehlte mir hier ein bisschen was. Klang eben nach D-Beat mit französischen Texten, relativ unspektakulär, nichtsdestotrotz für ein Duo sehr respektabel heruntergeholzt. Sicherlich ist dieser Sound repräsentativer für unsere Musik, wenn man so will – den spektakuläreren Auftritt hatten aber THE INVASION hingelegt.

Letztlich ist das natürlich wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen, weshalb ich mir weitere solcher Gegenüberstellungen verkneife. MALAKOV aus Braunschweig und Gelsenkirchen machen mir dies leicht, da sie tatsächlich in fast schon übertriebener Quintettgröße auftraten. Auf die Ohren gab’s amtlichen deutschsprachigen Punkrock mit Tempo, Schmackes und schön kehligem Gesang. Besonders haftengeblieben ist bei mir ein Stück mit ausgedehnter ruhigerer Passage und wiederholter „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“-Aufforderung. Aus den zwei Gitarren könnten MALAKOV noch etwas mehr herausholen, würden sie seltener das Gleiche spielen, den Tagessieg verhindert das aber natürlich nicht. Der Platz war mittlerweile wieder rappelvoll und als Zugabe gab’s TOXOPLASMAs „Ordinäre Liebe“, mitgebrüllt aus vielen heiseren Kehlen. So die Digitalpunks scheinen die Herren nicht zu sein, im Netz ist kaum etwas über sie zu finden. Ich weiß auch nicht, ob’s irgendeinen Tonträger gibt. Deshalb hier einfach mal ein Video, das auf einem anderen Open Air mitgeschnitten wurde:

Mittlerweile hatte ich ganz gut einen im Tee, es dämmerte und die Vorfreude auf die als eigentlichen Tageshöhepunkt gehandelten AKRABUT aus Israel stieg. Durch seine Verbindung zu den CITY RATS pflegt der Gaußplatz schon seit etlichen Jahren eine Freundschaft zu israelischen Punks. Unter anderem aus CITY-RATS-Mitgliedern rekrutieren sich auch AKRABUT, die einen rohen HC-Punk-Stiefel mit hebräischen Texten spielen, auf ihren Platten aber besser klingen als an diesem Abend. Der Gitarrensound bestand quasi nur aus Crunch, die Drums waren sehr in den Vordergrund gemischt. So richtig abgeholt hat mich das nicht; mir war’s ‘ne Weile zu krachig, wenngleich der Drummer sehr tight durchholzte und sich der Sound nach hinten raus zu bessern schien. Die „Hiroshima Palastina“-EP macht mir dagegen richtig Spaß. Die Ansagen gab’s in englischer Sprache und bestätigten mich in meiner Ansicht, dass, wer sich im Israel-Palästina-Konflikt stramm auf eine Seite stellt, reichlich suspekt ist – gleich ob „Antideutscher“ oder Israel am liebsten als ersten aller Nationalstaaten abschaffen wollender Antisemit. Vielmehr gilt es, sich mit progressiven Kräften beider Seiten zu solidarisieren – und AKRABUT scheinen zu diesen zählen.

Dieser sehr musikfokussierte Bericht vermittelt möglicherweise einen falschen Eindruck: Beim Gaußfest geht’s nicht unbedingt hauptsächlich um die Live-Acts, im Prinzip hätte ich auch mit keiner einzigen Band etwas anfangen und trotzdem meinen Spaß haben können. Das Gaußfest ist in erster Linie eine riesige Party in meist entspannter Atmosphäre und vielen Gästen von außerhalb. Dieses Jahr gab’s so wenig Glasbruch, dass zahlreiche Mädels barfuß tanzen konnten. Ein Vertreter eines ebenfalls sein 30-jähriges Jubiläum feiernden Schweizer Platzes war vor Ort und unterhielt sich mit uns in seinem drolligen Akzent. Ein Feuerspucker sorgte zwischen den Gigs für spektakuläre Unterhaltung, indem er sich ständig fast die Fresse zu verbrennen schien, und Höppi führte sein herzallerliebstes Punkrock-Marionettenspiel auf. Im Nachhinein ist’s nur etwas schade, dass ich am Freitag so gar keinen Sinn für das opulente Büffet hatte, das in der Platzkneipe El Dorado aufgebaut worden war und mit zahlreichen Leckereien aufwartete, als befände man sich im Luxushotel… Vornehm und mit Punk-Soundtrack geht die Welt zugrunde! Auf die nächsten 30 Jahre Gaußplatz!

05.06.2022, Barclays-Arena, Hamburg: PET SHOP BOYS

Es gibt diese Momente, in denen man über eine Konzertankündigung stolpert, die so gar nichts mit Subkultur zu tun hat, aber einen Act betrifft, der einen – mal mehr, mal weniger – schon sein ganzes Leben lang begleitet und sich nicht nur mit einer Handvoll Evergreens im Langzeitgedächtnis festgesetzt hat, die man in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder hervorkramt, sondern der auch im Radio nach wie vor omnipräsent ist und sogar weiterhin regelmäßig abliefert. Das britische Synthie-Pop-Duo PET SHOP BOYS ist so ein Fall. In den 1980ern haben Neil Tennant und Chris Lowe diesen Musikstil und aufgrund ihres immensen Erfolgs die Populärkultur jener Dekade mitgeprägt und waren seitdem nie weg. Die PET SHOP BOYS entwickelten sich musikalisch weiter, modernisierten ihren Sound und landeten immer mal wieder Treffer, die auch mich erreichten. Dies gelang ihnen vor allem mit der „Agenda“-EP aus dem Jahre 2019, mit der sie sich auf ihren ‘80er-Stil zurückzubesinnen schienen.

Als ich irgendwann 2019 oder Anfang 2020 davon erfuhr, dass sie auf Tour kommen würden, unterlag ich meiner diffusen Schwäche für ‘80er-Synthie-Pop und gelang es mir gerade noch, zwei Karten für den Hamburg-Gig im Mai 2020 zu besorgen. Dann kam die Covid-19-Pandemie und die Tickets landeten auf dem Stapel unbekannt verschobener Veranstaltungen. Der Ersatztermin 2021 fiel ebenfalls dem Virus zum Opfer, aber am Pfingstsonntag ’22 sollte es tatsächlich klappen! Die einst von O2-Arena in Barclaycard-Arena umgetaufte große Halle heißt mittlerweile Barclays-Arena, aber unsere alten Tickets besaßen noch immer Gültigkeit. Nach einer kräftigen Stärkung am Imbiss ging’s per S-Bahn nach Stellingen, wo wir ob des hervorragenden Wetters auf den Shuttle-Bus pfiffen und uns in einem Pulk weiterer PET-SHOP-Hools durch Parkanlagen hindurch den Weg zur Was-auch-immer-Arena bahnten. Bald hatte ich meinen Denkfehler bemerkt, das Publikum bestünde mit Sicherheit größtenteils aus Teenies, die die Band seit den ‘80ern hören. Ähm… Angesichts der tatsächlichen Besucherinnen und Besucher witzelten wir dann, dass wir uns statt vor einer Wall of Death vor einer Wall of Mums and Dads in Acht würden nehmen müssen.

Meine letzte Vorglüh-Pilsette zischte ich in der langen Schlange am Einlass, die erstaunlich schnell voranschritt. Der Grund: Taschen und ähnliches Gedöns jagte der Sicherheitsdienst kurzerhand durch Metalldetektoren und Impfnachweise entfielen. Der halbe Liter Bier kostet in der Arena mittlerweile amtliche 6 Öcken, ‘ne Piña Colada dafür nur 50 Cent mehr – und wenn man den richtigen Bierstand erwischt, gibt’s immerhin Duckstein statt Holstenplörre. Das Publikum setzte sich augenscheinlich aus einem Mainstream-Publikum in den besten Jahren, aber auch einigen Jüngeren, der „Zumindest einmal gesehen haben und ‘nen Haken dran“-Konzerttouri-Fraktion sowie ein paar ’80s-Abkultern zusammen. Ein Typ lief mit langen Haaren, Sonnenbrille, pinkem Stirnband, ebensolcher Tigerhose und „I Love The 80s“-Shirt rum, ein anderer sprach mich auf die HC-Aufnäher auf meiner Kutte an und versicherte, eigentlich auch eher aus jener Ecke zu kommen, aber nun einmal ebenfalls auf geilen ‘80er-Scheiß zu stehen.

Der Kartenkauf lag derart lange zurück, dass ich kaum etwas übers Konzert wusste. So hoffte ich, dass die PET SHOP BOYS nicht in erster Linie ein neues Album promoten, sondern möglichst viele Klassiker spielen würden – ohne mir bewusst zu sein, dass ich ein Konzert der „Dreamworld – The Greatest Hits live”-Tour besuche, ich also jeden Klassiker zu hören bekommen werde! Dass meine Liebste und ich uns mitnichten im Innenraum aufhalten werden, sondern zwei Sitzplätze auf dem Unterrang erworben haben, wurde mir ebenso erst auf dem Hinweg wieder klar wie der Umstand, dass es keinerlei Vorgruppe geben würde. Um 20:00 Uhr sollte es losgehen, ca. zehn Minuten vorher fanden wir uns auf unseren Plätzen ein und lauschten belangloser Fahrstuhlmusik in Endlosschleife. Die Herren ließen sich bitten, der Beginn verzögerte sich um ca. zehn Minuten. Als dann „Smalltown Boy“ von BRONSKI BEAT durch die gigantische Anlage schallte, atmeten alle, die ebenfalls von der vorausgegangenen Mucke genervt waren, erleichtert auf – und, ja: Das hatte doch schon mal Atmosphäre.

Nicht nur die Ränge waren bestuhlt, auch der Innenraum, was den Unterschied zwischen den Bereichen minimierte. Und als die BOYS auf der Bühne auftauchten und direkt mit der Working-Class-Synthie-Oi!-Hymne „Suburbia“ einstiegen, hielt es niemanden mehr auf den Stühlen. Mr. Tennant und Mr. Lowe allerdings standen in ihrer spacigen Kostümierung stoisch unter zwei Straßenlaternen, Lowe natürlich hinter seinem Keyboard (mit Monitor), und zeigten keinerlei Regung, während im Hintergrund digitale Animationen flimmerten. Sollte das den Rest der Show über so bleiben?

Nun ja, dass wir die beiden kaum erkannten, da sie nicht in Ausschnitten vergrößert auf die seitlichen Videoleinwände geworfen wurden: ja. Die Show an sich wechselte ab dem dritten Song jedoch beständig, ebenso die Hintergrundanimationen, in denen sich fiebrig tanzende Elektroimpulse mit Musikvideo-Ausschnitten abwechselten. Ständig wurde unbemerkt etwas umgebaut, kamen z.B. Percussionists auf die Bühne oder wechselten Aufbauten, Hintergründe und Kostüme. Warum man auf die Vergrößerungen auf den Videoscreens verzichtete, begriff ich mit der Zeit: Es hätte von der Show abgelenkt, die genau so aussehen sollte, wie sie sich einem präsentierte. Die BOYS als Teil davon, nicht überlebensgroß über ihr stehend. Elektronische Kälte und Stoizismus, konterkariert vom tanzbaren Songmaterial mit Tennants warmer, sanfter, dennoch charismatischer Stimme und dem melancholischen Touch so vieler Stücke. Auf „Suburbia“ folgte mit „Can You Forgive Her?“ ein Höhepunkt aus den 1990ern, „Opportunities (Let’s Make Lots of Money)“ hatte ich so gar nicht auf dem Schirm, überzeugte live aber vollends, „Where the Streets Have No Name (I Can’t Take My Eyes Off You)“ übernahm und gab den Staffelstab ans großartige „Rent“, „Se a vida é“ war einfach, ja: schön, und vor „Domino Dancing“ nahm sich Tennant etwas Zeit, um die Entstehung des Songs zu erläutern. Den Refrain ließ man ausschließlich vom Publikum singen, ebenso später die Bridge von „Always On My Mind“, jener BRENDA-LEE-Coverversion, mit der einst Elvis große Erfolge feierte und die von den PET SHOP BOYS bis an den Rande des Schlagers – aber eben wirklich nur bis dorthin! – adaptiert wurde und ich in mein Herz geschlossen habe. Duettpartnerin für „What Have I Done To Deserve This?” war Clare Uchima, die sich zu den BOYS auf die Bühne gesellte.

Songs, die ich nicht kannte oder mir nicht mehr geläufig waren, hielten sich mit meinen favorisierten Hits die Waage, „Monkey Business“ und „Dreamland“ (auch mit Uchima) vom aktuellen Album „Hotspot“ waren die jüngsten Stücke. Natürlich war die eine oder andere Nummer dazwischen, die mich nicht gleich zu Begeisterungsstürmen hinriss und ich eher unter „nett“ oder „ok“ einordnen würde, aber richtigen Mist habe ich nicht vernommen, im Gegenteil: Sehr gefreut habe ich mich über „You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk”, von dem Tennant in seiner Ansage meinte, dass es in Deutschland vielleicht kaum jemand kennen würde, da das Stück in erster Linie in der britischen Heimat ein Hit gewesen sei. Tennant schnappte sich doch tatsächlich eine Akustikklampfe und begleitete sich selbst. Ein besonderer Moment zwischen all den Elektroklängen. Ausgerechnet bei „Heart“, einem meiner ewigen Favoriten (der Videoclip!) war ich pinkeln und Getränkenachschub organisieren. Letzteres ging übrigens stets sehr flott, denn bei so einem PET-SHOP-BOYS-Konzert wird offenbar wesentlich weniger gesoffen als anderswo. Erstaunlich, ich weiß. Das VILLAGE-PEOPLE-Cover „Go West“ war ebenso gesetzter Standard wie die (Nicht-nur-)LBGTQ-Hymne „It’s A Sin“, mit dem der reguläre Teil endete.

„West End Girls“ und „Being Boring“ als Zugaben besiegelten ein satte 26 Songs umfassendes Konzert, bei dem ich entweder dauergrinsend und im Takt wippend dastand oder euphorisiert mitsang – und nicht so recht verstand, weshalb es mir nicht alle in der Arena gleichtaten. Aber damit wir uns nicht falsch verstehen: Die allgemeine Stimmung war trotzdem gelöst, fröhlich und absolut entspannt. Was da letztlich alles vom Playback kam, kann ich natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber Tennant sang selbst und dass man sich die Mühe machte, zeitweise zwei Percussionsets aufzubauen und zu spielen, spricht dafür, dass man versuchte, so viel wie möglich live darzubieten. Auf diese Weise gefällt mir Techno-Muffel dann so’ne Show auch. Sound, Lightshow, Songauswahl, Tennants nicht gealterte Stimme – alles knorke, mit zwei Einschränkungen: Schade, dass nichts von „Agenda“ gespielt wurde; und die Lightshow verhinderte durch ihr quasi permanentes Gegenlicht, dass Madame und moi vernünftigere Fotos schießen hätten können. Gibt Schlimmeres. Das war dann also mein erstes richtiges Konzert einer Band aus dem goldenen Pop-Zeitalter – und hoffentlich nicht mein letztes. Kann mal bitte endlich jemand Cyndi Lauper nach Hamburg holen…?!

P.S.: Im Eintrittspreis inbegriffen war ein tatsächlich durch die Bank weg überaus freundliches und bei Fragen hilfsbereites Personal, zudem dürfte es sich um einen der Hamburger Veranstaltungsorte mit den meisten und saubersten Toiletten handeln. Dass man offensichtlich ums Wohlbefinden seiner Gäste bemüht ist, relativiert dann zumindest ein Stück weit den verglichen mit anderen Veranstaltungen, die wir für gewöhnlich besuchen, recht hohen Ticketpreis…

14.05.2022, Freiraum Itzehoe: HARBOUR REBELS + BOLANOW BRAWL

Über zwei Jahre hatten wir kein Konzert mehr gegeben, doch unsere „postpandemische“ Konzertsaison sollte beginnen, wie die präpandemische endete: mit den HARBOUR REBELS. Obwohl, eigentlich sollten wir für RED BRICKS eröffnen, die ohne Sänger zurzeit jedoch aufgeschmissen sind. Dankenswerterweise sprangen HARBOUR REBELS umgehend und unkompliziert ein. Konspirativ näherten wir uns an diesem lauen Frühlingsnachmittag in Kleingruppen dem Itzehoer Freiraum, der sich etwas versteckt, weil unausgeschildert hinter Industriegebäuden auf einem ehemaligen Areal für Bahnmalocher befindet. Vor ein paar Jahren hat die Freiraum-Crew um Melissa und Dietmar im Schweiße ihres Angesichts dort alte Bahngleise aufgeschüttet und ‘ne muggelige Veranstaltungsbude etabliert, in der nun regelmäßig Subkulturelles stattfindet. Im Inneren verbindet ein schnieker Tresen den Backstage- mit dem Bühnenbereich, zu trinken gibt’s u.a. kaltes Ratsherrn (mein Lieblingspils!) und im Gartenbereich kann man sich in Liegestühle fallenlassen, aus denen man in meinem Alter nur schwer wieder hochkommt. Dass ich überhaupt zu diesem Gig hochkommen würde, stand die Woche über auf der Kippe, da mich – erstmals seit Jahren! – ausgerechnet jetzt ‘ne miese Erkältung erwischt hatte. Freitagmittag aber hatte ich entschieden, die Nummer durchzuziehen und mir mein Kamillosan-Rachenspray (Tipp!) eingepackt. Nachdem alles aufgebaut und der Sound gecheckt war, gab’s lecker Mampf vom Orientimbiss.

Wenige Falafelfürze später ließen wir unser neues Intro aus der Konserve erklingen und stiegen wie gewohnt mit „Total Escalation“ in unser Set ein. Boah, geil – endlich wieder live zocken! Ein warmes Gefühl der Euphorie überkam mich. Dass es Probleme mit der Monitoranlage gab und ich mal wieder dazu neigte, dagegen anzuschreien, mich selbst auf der Bühne kaum zu hören: geschenkt. Immerhin hielt meine Stimme größtenteils durch, offenbar klang ich schlicht rotziger als sonst. Neben unseren üblichen Songs war auch wieder „Cliché“, unsere zweitjüngste Nummer, im Set, und unser betäubungsmittelmissbrauchskritischer „Saufen ist geiler als koksen“-Song „Not My Thing“ feierte seine Livepremiere. Die wohl so knapp 30 Menschen im Publikum tanzten paar Runden, verließen aber auch in Teilen die Bude, weil es ihnen zu laut gewesen sei (?!), und lauschten vor der geöffneten Tür weiter – Kippe in der einen, Mische in der anderen Hand –, oder alberten vor der Bühne herum und schossen Selfies. Zu fünft auf derselben war’s ganz schön eng, sodass ich beim Gestikulieren immer mal wieder versehentlich in Keith‘ Bass grabschte, was die eine oder andere Unterbrechung zum Instrumentenstimmen nach sich zog. Fast alles wie früher also! Etwas gewöhnungsbedürftig hingegen das überwiegend purpurne Licht, das ab und zu kurz unvermittelt wechselte, um sich schnell wieder irgendwo zwischen rosa und lila einzupendeln. Nach zwölf Songs inklusive Zugabe war für uns Feierabend.

Diesen versüßten uns die HARBOUR REBELS mit ihrem oft deutsch-, aber auch mal englischsprachigen Streetpunk voller Ohrwurmmelodien und von Sängerin Jules kräftiger Stimme geschmetterten Mitsingrefrains, der sich thematisch zwischen der eigenen Szene, Fußball, Kritik an der Gesamtscheiße und auch Persönlicherem, Ernstem wie einem Song über Depressionen bewegt. Jule führte mit launigen Ansagen durchs Set, das von gleich drei Coverversionen – „Because You’re Young“ (COCK SPARRER), „Skinhead Times“ (THE OPPRESSED) und „Nich‘ mein Ding“ (HAMBURGER ABSCHAUM, Gitarrist Dennis‘ ehemalige Spielwiese) – abgerundet wurde. Nachdem Benny eine Gitarrenseite gerissen war, konnte Christian mit seiner Klampfe aushelfen, sodass eine längere Pause vermieden wurde und die gute Stimmung nicht absank. Der Laden war nach wie vor nicht gerade überfüllt, aber alle schienen ihren Spaß zu haben. Selbst beim St.-Pauli-Skinheads-Song nahm die Band entwaffnend jegliche Verbissenheit heraus, indem man ein Bandmitglied als HSVer „outete“ und man den anwesenden Hansa-Rostock-Anhänger in ein nettes Pläuschchen verwickelte. Anschließend tranken wir alle (außer Ole, der mit eigener Karre wieder nach Kiel zurück und deshalb bedauerlicherweise trockenbleiben musste) gemeinsam den Kühlschrank leer und manch einer feierte noch die erlesene Musikauswahl des nun auflegenden DJs ab, die von GIANNA NANNINI über NEW ORDER bis DRITTE WAHL reichte.

Itzehoe war ein idealer Warm-up für zukünftige Livegigs sowie eine schöne Gelegenheit, mal wieder aufs platte Land um Hamburg ‘rum herauszukommen und der Dorfpunkkultur zu frönen. Lediglich die Idee, den Merchstand im Backstage-Bereich aufzubauen, den daraufhin kaum jemand findet, wäre eventuell zu überdenken, haha… Behaltet den Freiraum e.V. ruhig mal im Auge, am 25. Mai spielen dort z.B. LOS FASTIDIOS mit ZOI!S. Danke an dieser Stelle noch mal dem Freiraum-Team sowie den HARBOUR REBELS für alles, Sandy dafür, mit gebrochenem Fuß als Fahrerin fürs Schlagzeug und zwei Fünftel unserer Band eingesprungen zu sein, sowie der Dame, die den Rest unserer HH-Delegation kurzerhand zum Itzehoer Bahnhof chauffierte, von wo aus wir feuchtfröhlich die Heimreise antraten und diverse Babytauben zu sehen bekamen…

P.S.: Nicht zuletzt danke an Ben German und Sandy für die Fotos (und Videos fürs Privatarchiv) unseres Gigs!

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