Günnis Reviews

Kategorie: Bücher (page 4 of 24)

Das Riesen-Ferien-Buch

Als ich dieses rund 200-seitige Softcover-Album aus der Carlsen-Qualitätscomicschmiede in einer Wühlkiste auf der Comic- und Manga-Convention in der Hamburger Fabrik entdeckte, fühlte ich mich wohlig an meine Kindheit erinnert, als ich mich immer freute, ein extradickes Ferien-Comicsonderheft auf dem Flohmarkt zu finden und es genüsslich während des Sommers zu verschlingen. Also sackte ich den im Mai 1996 veröffentlichten, vollfarbigen, auf mattem Qualitätspapier gedruckten Wälzer ein und vergrub mich auf meinem Urlaubsflug nach Mallorca darin.

Die vielen eingestreuten, sich an eine kind- und jugendliche Leserschaft richtenden Rätsel interessierten mich dabei weit weniger als das äußerst gelungene, kurzweilige Sammelsurium frankobelgischer Funny-Comics von „Spirou und Fantasio“ über die Gesetzeshüter-Karikatur „Dein Freund und Helfer“ (dessen Protagonisten ich seinerzeit über Kauka und Moewig als „Bully Bouillon“ kennengelernt hatte), den Krankenhaus-Irrsinn „Die kranken Schwestern“, die Abenteuer des Kfz-Mechanikers Isidor oder des Grundschülers Cedric bis hin zur Touristen-Animateure-Parodie „Cactus Club“, wovon mir das meiste zuvor unbekannt war. Erstmals las ich so auch das „Spirou und Fantasio“-Prequel-Spin-Off „Der kleine Spirou“, das mit seinem Humor und seiner Niedlichkeit heraussticht. Makaberer geht’s beim Totengräber Pierre Tombal zu; durchaus schwarzhumorig auch beim „Höllenspaß“, der Gags an der Himmelspforte mit Rätseln kombiniert. Zumindest zum Teil tut dies auch der Satansbraten „Die kleine Lucie“. Fast alle Reihen sind mit mehreren Geschichten vertreten, deren Umfang von Einseitern bis zu mehrseitigen Erzählungen reicht.

„Das Riesen-Ferien-Buch“ bietet somit auch einem erwachsenen Publikum einen sehr unterhaltsamen, abwechslungsreichen Überblick über frankobelgische Funnys und drängt sich damit als lockerer Einstieg in die Urlaubslektüre geradezu auf.

Frank Schäfer – Woodstock ’69: Die Legende

Der Braunschweiger Frank Schäfer, Autor zahlreicher Veröffentlichungen aus den Bereichen Literatur- und Musikkritik, Populär- und Subkultur sowie autobiographisch geprägter Romane, machte sich mit dem im Jahre 2009 im österreichischen Residenz-Verlag veröffentlichten „Woodstock ‘69“ daran, ein ganz dickes Brett zu bohren: eine sich über rund 200 Taschenbuchseiten erstreckende Rekonstruktion des legendären Hippiefestivals, die sich auf eine beachtliche Zahl an Quellen stützt. Natürlich war der 1966 geborene Schäfer seinerzeit nicht selbst vor Ort. Dank seiner akribischen Quellenauswertung liest sich das in fünf Hauptkapitel unterteilte Buch jedoch mitunter, als sei er es gewesen.

So lassen sich die Vorbereitungen von der Gründung der Veranstaltungsfirma mit ihren gegensätzlichen Charakteren über fragwürdige Finanzdeals inkl. deren Hintergründe bis zu den Schwierigkeiten, ein passendes Gelände zu finden, nachlesen. Dass das Festival letztlich gar nicht in Woodstock, sondern 50 Kilometer entfernt stattfand, dürfte bereits für viele nicht unbedingt zum Allgemeinwissen zählen. Man erfährt Details zur Zusammenstellung des Line-Ups, sogar die einzelnen Gagen werden genannt. Schäfer schreibt unterhaltsam und bei aller Faktentreue spannend. Kritische Worte in Richtung der Veranstalter und deren Organisationsschwächen lassen früh erahnen, dass Schäfer nicht daran gelegen ist, den Woodstock-Mythos weiter zu nähren. Stattdessen stellt er diesen infrage, setzt sich aber auch mit von anderen kolportierter Kritik auseinander und zitiert zahlreiche Zeitzeugen. Über Schein und Wirklichkeit der u. a. von Warner Brothers finanziell gepuderten Veranstaltung heißt es beispielsweise auf S. 39:

„[…] [D]as öffentliche Bild war – und ist bis heute – ein anderes: nämlich das eines finanziellen Fiaskos. Und die Verantwortlichen taten gut daran, dieses Bild aufrechtzuerhalten, denn es verschaffte allen ein Alibi. Man konnte sich hier amüsieren, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, den Ausverkauf der Hippie-Lehre zu unterstützen. ‚Erst das‘, konstatiert Thomas Groß zu Recht, ‚machte aus dem Ereignis eine Art Lourdes des gegenkulturellen Glaubens.‘“

Einen Großteil des Buchs machen detaillierte Beschreibungen der einzelnen Auftritte aus, die weit über das hinausgehen, was man in den bekannten Dokumentarfilmen zu sehen und hören bekommt. Schäfer liefert Hintergrundinformationen, Analysen und Stimmen. Er geht auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände angesichts des Vietnamkriegs sowie die Gründe für die Reihenfolge, in der die verschiedenen Acts die Bühne betraten, ein und zitiert ganze Songtextpassagen, stets begleitet vom Stimmungsbild der öffentlichen Berichterstattung und Beschreibungen der immer schlechter werdenden infrastrukturellen Umstände vor Ort – und wie man ihnen begegnete. CANNED HEAT und MOUNTAIN als musikalisch etwas härtere Bands sind ebenso Teil Schäfers musikhistorischer Reflektion wie THE GRATEFUL DEAD, wenn er der Frage nachgeht, weshalb ausgerechnet diese Vorzeigehippies trotz ihres Auftritts so wenig mit Woodstock in Verbindung gebracht werden. Mit CCR und THE WHO betraten wirklich gute Bands die Woodstock-Bühne, von denen mindestens letztere gar nicht so recht aufs Festival passten – wie Schäfer treffend analysiert.

Unterbrochen wird der musikalische Teil von einem Exkurs zu LSD-Papst Timothy Leary – frei von Verklärung, vielmehr fundiert und angemessen kritische Stimmen zitierend – sowie etwas, das sich bereits immer mehr angedeutet hatte: einem vielleicht recht hart anmutenden, aber gerechten Abgesang auf den Woodstock-Mythos und die Hippies, wofür Schäfer das „Westcoast-Woodstock“ Altamont Free Concert und die bereits zuvor verübten Morde durch die „Manson-Family“ heranzieht. Er zitiert verschiedene Erklärungsversuche und -ansätze und fasst die Ausschreitungen auf etlichen Festivals nach Woodstock zusammen. Anschließend geht es zurück nach Woodstock und damit zu den Sonntagsauftritten, wie jenem von CROSBY, STILL, NASH & YOUNG kurz vor der Veröffentlichung des ersten Soloalbums Neil Youngs, dem der Rock’n’Roll-Covertruppe SHA NA NA und natürlich Headliner JIMI HENDRIX‘, der – wie seine Vorgänger – erst am Montagmorgen spielte, als der Großteil des Publikums bereits wieder abgereist war! Seine Berichte zu den nicht in den bekannten Dokumentar- und Konzertfilmen enthaltenen Auftritten fußt Schäfer auf etlichen anderen Quellen bis hin zu Bootleg-Aufnahmen, aus denen er sie gewissermaßen rekonstruiert. Meist macht er zudem Angaben zum jeweiligen Bild- und/oder Ton-Veröffentlichungsstatus der einzelnen Auftritte, auch hier bis hin zu Bootlegs und YouTube-Fragmenten, was Woodstock-Archäolog(inn)en und -Sammler(innen) erfreuen dürfte (heute, also 14 Jahre später, aber wahrscheinlich nicht mehr ganz aktuell ist).

Teil des Woodstock-Mythos ist jener um JIMI HENDRIX, und auch dieser hat bei Schäfer kaum Bestand. Hendrix habe den US-Krieg gegen Vietnam sogar befürwortet und die Nationalhymne schon lange im Programm gehabt. (Schäfers Bibliographie weist übrigens zwei gesonderte Veröffentlichungen zu Hendrix auf: „A Tribute To Jimi Hendrix“, 2002 und „Being Jimi Hendrix“, 2012.) Das letzte Kapitel widmet sich der Postfestival-Rezeption und beginnt mit einer Art Pressespiegel. Außerdem wird die sicherlich nicht ganz unbedeutende Rolle der Filmcrew einzuordnen versucht. Schäfers These, und sie wird wahr sein: Der überraschend friedliche Ablauf beruht vor allem darauf, dass die Polizei draußen bleiben musste und der Sicherheitsdient sich aus eigenen, quasi subkulturellen Reihen rekrutierte – in Kombination mit einem drogensedierten Publikum. Dass Veranstalter, Publikums, Einzelinterpreten und Bands aber ein verschworener, für Love & Peace an einem Strang ziehender Haufen gewesen seien, gehört aber ins Reich der Fabel. Schlussendlich zieht er ein sich aus zahlreichen Zitaten zusammensetzendes Fazit zur Entstehung des Woodstock-Mythos, den er mit seinem Buch beeindruckend auseinandergenommen hat.

Insgesamt setzt Schäfer 240 Quellenverweise; wiederholt geht er auch über die Zitatform hinaus auf andere Literatur zum Thema sowie Szenen der Woodstock-Filme ein. Er zitiert auch sich widersprechende Aussagen und versucht, durch Abwägungen der Wahrheit näherzukommen. Für diese Kleinarbeit gebührt ihm ebenso Respekt wie für sein Geschick, daraus eine spannende Lektüre zu formen, die sich flüssig liest. Außer in jenen Momenten, in denen Schäfer seiner Schwächen für die Verwendung möglichst obskurer Wörter nachgibt. Gestolpert bin ich u.a. über lysergsauer (S. 27, = unter LSD-Einfluss), bramarbasiert (S. 76, = prahlerisch), Inaugurationsakt (ebd., = Amtseinführungsakt), Locus amoenus (S. 140, = idealisierende Naturschilderung in der Literatur), bukolisch (S. 141, = idyllisch), ausbedungen (S. 165, = zur Bedingung gemacht), decrouvierenden (S. 170, = entlarvenden) und arrondierend (S. 181, = abrundend).

Ein paar Fotos wären indes schön gewesen, insbesondere dann, wenn Schäfer Bilder wie z. B. die Plakatgestaltungen beschreibt. Die Buchmitte offeriert zumindest ein wenig Vor-Ort-Bildmaterial in Schwarzweiß. Sei’s drum, „Woodstock ‘69“ brachte mir als grundsätzlich pop- und rockkulturell interessiertem Leser, der jedoch Hippies und ihre Musik verabscheut, nicht nur den Festivalverlauf, sondern generell US-Musik der 1960er näher, wobei Schäfers subjektiver Musikgeschmack natürlich in seine Bewertungen miteinfloss. Interessanterweise schreibt er im Zusammenhang mit SHA NA NA vom Musicalfilm „Grease“ als das Ende eines ersten ‘50er-Revivals, das bereits Ende der 1960er begonnen habe – gewissermaßen also auch durch den SHA-NA-NA-Gig auf der Woodstock-Bühne.

Als überraschend hart empfand ich lediglich Schäfers JOAN-BAEZ-Schelte. Frank, wir wissen doch beide: Ohne Baez kein „Diamonds and Rust“ von JUDAS PRIEST!

Cinema-Sonderband Nr. 1: Das Beste aus den Start-Ausgaben

Cinema, die größte deutsche Kino-Zeitschrift, existiert seit 1976 und war einst ein wichtiges Informationsmedium, das es sich jedoch oftmals mit simplen Handlungsnacherzählungen zu Filmen inklusive Spoilern etwas zu einfach machte. In der zweiten Hälfte der 1980er jedoch war aus dem einst eher den Eindruck eines Werbeblatts der Filmindustrie hinterlassenden Heft ein inhaltlich durchaus ernstzunehmendes Periodikum geworden. Im Jahre 1980 brachte man in Form dieser 68-seitigen Sonderausgabe einen Sammelband nach Dafürhalten der Redaktion besonders lesenswerter Artikel aus den vergriffenen Startausgaben heraus, um der Nachfrage nach längst vergriffenen alten Heften gerecht zu werden. Schade indes, dass sich nirgends entnehmen lässt, in welcher Ausgabe die jeweiligen Inhalte erstabgedruckt worden waren.

Auf das mit dem Inhaltsverzeichnis verwobene Vorwort folgt ein achtseitiger Bericht über Stanley Kubricks „Barry Lyndon“, in dem Wolf Donner sich redlich Mühe gibt, den Film wohlwollend zu umschreiben, ohne allzu sehr durchblicken zu lassen, dass er ihn als eigentlich eher langweilig empfand. Die sich durchs Heft ziehenden zahlreichen großformatigen Fotos sehen aus heutiger Perspektive nach Platzschinderei aus, erfüllten in Zeiten nicht überall auf Mausklick verfügbarer Trailer oder Fotostrecken aber den nachvollziehbaren Zweck, optische Eindrücke eines visuellen Mediums zu vermitteln – und entfalten dann und wann beim Blättern in diesen alten Zeitschriften ihren ganz eigenen Reiz.

Weiter geht’s mit dem Disney-Zeichentrickfilm „Bernard und Bianca“ und einem schönen Interview mit Bud Spencer, worauf ein reich bebildertes, fünfseitiges Porträt B.O. Wulffs der Erotikdarstellerin Sylvia Kristel folgt. Anstelle des im Inhaltsverzeichnis und auf dem Titelblatt angekündigten Berichts zu „Ein ausgekochtes Schlitzohr“ wird das Katastrophenfilm-Genre mit „Achterbahn“ bedient. Laut James Goldstone seien „suspence-Klassiker wie Alfred Hitchcock und Carol Reed“ Vorbilder gewesen. Wenn das keine Stilblüte ist… Kommen wir zu James Bond mit „Der Spion, der mich liebte“, der auf den satten acht Seiten nach allen Regeln der Kunst gespoilert wird. Immerhin finden sich hier neben einigen Kästen mit Zusatzinformationen aber auch kritische Worte zu den vorausgegangenen Bond-Filmen. Zwei Seiten widmet man „Schwarzer Sonntag“, bevor man zu einem wirklich interessanten Hintergrundbericht zum die Watergate-Affäre verarbeitenden „Alle Männer des Präsidenten“ übergeht. Eine Witzseite sorgt für Zerstreuung und der anschließende Artikel zu „Bilitis“ ist so weit ok, wenn auch sehr unkritisch – vermutlich dem damaligen Zeitgeist geschuldet.

Nach noch mehr Witzen bekommt der Polit-Thriller „Julia“ zwei Seiten spendiert, der Hintergrundbericht „Kino zwischen Profit und Pleite“ beschreibt knapp das unternehmerische Risiko von Filmproduktionen und die sieben Seiten zu „Die Tiefe“ lesen sich leider fast wie ein reiner Promo-Text. Einige Bildunterschriften sind verschwommen und daher nur schwer lesbar. Spielbergs „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ wird abschließend mit sage und schreibe zehn Seiten bedacht, inklusive vieler großer Bilder, die hier aber insbesondere deshalb ihre Berechtigung haben, weil sie das besondere Farbenspiel des Films erahnen lassen. Der mit oberflächlichen Infokästen über Regisseur Spielberg und Spezialeffektkünstler Trumball versehene Artikel spoilert die Handlung jedoch wieder komplett und steckt mehr noch als die anderen Heftinhalte voller Zeichensetzungs- und Grammatikfehler.

Eigenartige Phänomene wie Bindestriche flankierende Leerzeichen und Rechtschreibschwächen wie „Jagten“ als Plural von „Jagd“ finden sich immer mal wieder und das Vorwort wurde offenbar auf den allerletzten Drücker eingereicht, sodass es kein Korrektorat mehr durchlaufen konnte. Um einen Eindruck der Stärken und Schwächen alter Cinema-Ausgaben zu erhalten, eignet sich dieser Sonderband also gut. Dass diese durchwachsene Sammlung tatsächlich „Das Beste“ aus den Startausgaben sein soll, stimmt hingegen nachdenklich…

Später folgte übrigens eine auf knapp 200 Seiten erweiterte Neuauflage mit neuem Cover. Vielleicht findet sich darin ja etwas über den bereits auf diesem Titel angekündigten Schauspieler Marty Feldman, der mir auch beim nochmaligen Durchblättern verborgen blieb. Marty, wo hast du dich versteckt?

Wie haltbar ist Videokunst? / How durable is Video Art? Beiträge zur Konservierung und Restaurierung audiovisueller Kunstwerke

Dieses 116-seitige broschierte Buch auf hochwertigem, festem Papier habe ich vor einiger Zeit aus einer „Zu verschenken“-Kiste am Straßenrand gefischt. Da ich selbst VHS-Bänder aufbewahre, hatte es mein Interesse geweckt. Herausgegeben wurde der sämtliche Inhalte in einer deutschen und einer englischen Fassung enthaltende, dadurch zweispaltig gestaltete Sammelband vom Kunstmuseum Wolfsburg im Jahre 1997. Anlass war das dessen Videosymposium am 25. November 1995. Aufgeteilt in neun Kapitel plus zwei Vorworte und ein paar Begleitinformationen wird der Begriff „audiovisuelle Kunstwerke“ dahingehend verengt, dass es vornehmlich um Videoinstallationen in Ausstellungen geht, weniger um z.B. fiktionale Spielfilme und Serien auf Videobändern. Anlass des Symposiums war die Ausstellung „High-Tech-Allergy“ des Künstlers Paik; abgedruckt sind die Vorträge verschiedener Referentinnen und Referenten jener Tagung sowie ein Interview mit Paik.

Das Vorwort verdeutlicht, worum es vorrangig geht:

„Die Zersetzung von Magnetbändern in Archiven, der Ausfall von Abspielgeräten, Mangel an Ersatzteilen, eine aufwendige Wartung sowie die rasante Weiterentwicklung der Bildverarbeitung verlangen vom Restaurator eine intensive Beschäftigung mit dieser erst dreißig Jahre alten Kunstform und ihrer Technik.“ (S. 7)

Nach einem Abschnitt über die grundlegenden technischen Unterschiede zwischen analogen und digitalen Speichermedien (damals vor allem die CD) sensibilisiert das zweite Kapitel für die Vielfalt an Videoformaten und deren Flüchtigkeit bei unsachgemäßer Handhabung, also die Empfindlichkeit der Magnetbandtechnologie. Fortan geht es, unterbrochen von einem recht aufschlussreichen Kapitel zum Thema Restaurierung, verstärkt um Videoinstallationen, die i.d.R. aus auf Video gespeichertem Filmmaterial und dazugehöriger Hardware bestehen. Daraus ergeben sich Fragen, inwieweit Einzelteile austauschbar sind, wenn z.B. zur Installation gehörende Röhrenmonitore ausfallen und ein absolut gleiches Ersatzmodell nicht mehr verfügbar ist. Das Fazit lautet sinngemäß: Das müsse mit der jeweiligen Künstlerin bzw. dem jeweiligen Künstler besprochen werde. Diese sind meist entspannt und reagieren mit „Nimm halt etwas Ähnliches, passt schon.“ Zugleich wird dadurch aber auch ein Plädoyer dafür ausgesprochen, vermeintlich veraltete Technik nicht zu verschrotten, sondern aufzubewahren und zu pflegen.

Besonders schön ist Axel Wirths‘ Kommentar zu Restaurierung, den sich das eine oder andere Heimkino-Label zu Herzen nehmen sollte:

„Diese Grundrestaurierung muß selbstverständlich die durch die damalige Technik bedingten Eigenschaften wie Grundrauschen, Dropouts etc. bewahren. Ein Band von 1972 darf nach der Restaurierung nicht aussehen wie eine Fernsehproduktion der 90er Jahre.“ (S. 64)

Wirths ist auch, der bereits damals eine Mischung aus Streaming-Angeboten, Pay- und Free-TV prognostizierte, wie wir sie heute als selbstverständlich empfinden.

Eher rechtlich und damit etwas trocken wird es bei Julia Meusers Kapitel zu Urheberrecht und Werkintegrität. Stilistisch ganz furchtbar ist Hans Ulrichs Recks Kapitel „Authentizität in der Bildenden Kunst“, aus dem ich exemplarisch folgenden Absatz zitiere:

„Die authentische Auslegung ist eine vom Verfasser/Urheber selbst getroffene Erklärung. Gerade die Erzählung der Kunstgeschichte ist dem Individuum als Instanz der Absicht, des Apriori jeder Intentionalität verpflichtet. Sie läßt ihrem Gegenstand – die Genesis der neuzeitlichen Kultur – aus dem Individuum hervorgehen. Daran wird eine Doppelung sichtbar: Diskurs der Geschichte als Setzung des Ich. Meta-Diskurs der Kunsthistorie als Genesis der Genesis dieses Ichs, das, mit der Kraft der Abstraktionen ausgestattet, in die Sphäre einer ästhetischen Geschichte verlegt wird.“ (S. 85)

Hiernach habe ich dieses Kapitel abgebrochen, denn es sollten noch 16 (!) weitere Seiten geschwurbelter Bleiwüste folgen.

Ein Interview mit Videokünstler Nam June Paik rundet den Band ab, der – von Reck einmal abgesehen – interessante Einblicke in das museale Interesse damals moderner Kunst bietet, für die Bedeutung älterer Technik sensibilisiert und Tipps zu Lagerung und Konservierung gibt. Eingeschlichen haben sich jedoch recht viele Zeichensetzungsfehler. Sonstige Rechtschreibfehler unterscheiden sich je nach Kapitel (und somit nach Referent(in)). Bildmaterial in Form sehr kleiner Fotos von Installationen und mitunter gar grauschraffierten Skizzen und Diagrammen ist meist nur schwer zu erkennen, hier wäre mehr Mut zu größeren Abbildungen und an die Publikationsform angepassten Grafiken wünschenswert gewesen. Insgesamt macht das Buch einen semiprofessionellen Eindruck.

Dem aktuellen Stand der Technik entsprechen die Inhalte natürlich nicht mehr, denn zumindest das relativ einfach mögliche Digitalisieren von VHS-Aufzeichnungen dank beschreibbarer DVDs und die Archivierungsmöglichkeiten dank erschwinglicher großer Festplatten und SSDs wurden damals noch nicht vorausgesehen. Und so manche Videokassette auf Qualitätsband, das nicht in zig verschiedenen Billigrekordern zu Tode genudelt wurde, hat sich bis in die Gegenwart dann glücklicherweise doch auch als robuster erwiesen als einst befürchtet.

Batman Classics Sonderband 1: Das Beste aus den 60er Jahren

Eine der faszinierendsten (Super-)Helden-Comic-Reihen ist seit jeher Batman, gerade weil er über gar keine Superkräfte verfügt. Von DC im Jahre 1939 erstmals ins Rennen geschickt, durchlebte der dunkle Ritter zahlreiche Metamorphosen, Spin-Offs und Reboots. Im Jahre 1999, also zum sechzigjährigen Jubiläum, stellte der deutsche Dino-Verlag für diesen Sonderband besonders relevante oder herausragende Batman-Comics aus den 1960ern zusammen, um sie auf rund 150 Seiten angereichert mit zahlreichen Hintergrundinformationen und einem eingehefteten Bastelbogen (für je einen Batman- und Robin-Aufsteller) neu zu präsentieren und so nachgewachsenen Leserinnen- und Lesergenerationen nahezubringen. Es handelt sich um einen vollfarbigen, handgeletterten Softcover-Band im bewährten Heftchenformat, der dem 1998 verstorbenen Batman-Erfinder Bob Kane gewidmet ist.

Im Vorwort geht Adam West, der Schauspieler also, der Batman in der komödiantischen Fernsehserie von 1966 bis 1968 und im Spielfilm aus dem Jahre 1966 verkörperte, auf eben jene Serie ein und schreibt, dass die Batman-Comics jenes Jahrzehnts die Hauptinspirationsquelle für die Serie gewesen seien. In dieser war Batman alles andere als düster. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es die damaligen Comics ebenfalls noch nicht waren bzw. dass sie zumindest eine humoristische Lesart erlaubten. Näher ins Detail geht die Infoseite „Batmans ,New Look‘“, die von der Neuausrichtung unter Redakteur Julius Schwartz im Jahre 1964 berichtet, der Batman wieder zu einem bodenständigen detektivischen Helden gemacht und den Science-Fiction-Anteil ebenso wie die Superschurken stark zurückfahren hatte. Als zwei Jahre später die TV-Serie ausgestrahlt und ein Riesenerfolg wurde, habe man sich jedoch stark an ihr orientiert. Die Serienmacher orientierten sich also an den Comics, die sich daraufhin an der TV-Serie orientierten: Ein schönes Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Medienformen.

Die erste Geschichte lautet „Kriminelle Komödien des Jokers!“ und stammt aus dem Juli 1964. Adam Wests genannte Inspiration wird hier verständlich, handelt es sich doch um eine komödiantische Story mit dem Joker als Antagonist, die man sich gut auch als Serienepisode hätte vorstellen können, die aber zugleich eine schöne Hommage an die Humoristen der Stummfilm-Ära darstellt. Der obszöne Reichtum des Opfers indes wird nicht problematisiert.

Auf eine Seite mit Batman- und Robin-Zeichenskizzen folgen „Die rätsellosen Raubzüge des Riddlers“ aus dem März 1966, eine großartige Geschichte um den mit seinem innere Zwang , Batman und Robin ständig Rätsel im Zusammenhang mit seinen Verbrechen stellen und damit Hinweise geben zu müssen, ringenden Schurken. Er versucht hier, sich selbst davon zu heilen. Das ist spannend und verfügt tatsächlich bereits über so etwas wie psychologischen Tiefgang – wenn auch noch arg abstrahiert, dafür nicht so albern, und wirft die Frage auf: Sind die Bekloppten, die einem im Alltag immer mal wieder über den Weg laufen, am Ende nicht vielleicht Hinweisgeber auf jemanden vom Schlage eines Riddlers?

Die Infoseite „Die Schurken der 60er, Teil 1“ proträtiert in Kurzform den Joker, den Riddler und Blockbuster, der im November 1965 eingeführt wurde und nun in „Blockbuster schlägt wieder zu!“ aus dem März 1966 zum Zuge kommt. Diese Geschichte wartet mit einer Rückblende in die Origin-Story des Blockbusters und als einen spektakulären Höhepunkt die Demaskierung Batmans vor dem Gegner auf. Es stellt sich heraus, dass der geheimnisvolle Outsider involviert ist, den man nicht bzw. nur in Form seines Schattens zu Gesicht bekommt und der der Geschichte einen düsteren Touch verleiht. Ein Infokasten nach dem letzten Panel enthält Hintergrundinformationen zu dieser 1964 eingeführten Figur, wurde aber leider nicht ins Deutsche übersetzt – weshalb auch immer.

Nachdem man sich auf einer weiteren Infoseite über die Batmobile der sechziger Jahre schlaumachen konnte, geht es mit Poison Ivys Origin-Story „Die Küsse von Poison Ivy!“ aus dem Juni 1966 weiter, die ein Stück weit auch eine Hommage an die Femmes fatales des Film noir bzw. entsprechender Kriminalbelletristik ist. Die Texte und Ideen sind grandios: Man verguckt sich ineinander, Ivy gleich sowohl in Bruce Wayne als auch in Batman, erstmals zieht sich Wayne öffentlich in Batman um und sogar drei ältere Schurkinnen werden involviert, als Ivy sich derer Eitelkeit zunutze macht, um sie gegeneinander auszuspielen. Da macht sich Robin zurecht Sorgen, dass Batman ihr verfallen könnte. Sexy und ein toller Einstand!

Wir bleiben bei Frauen-Power: „Batgirl teilt das dynamische Duo!“ aus dem November 1967 hat diverse blumige Umschreibungen für Barbara Gordon alias Batgirl parat, von der „maskierten Maid“ über die „schwingentragende Schönheit“ bin zur „schönen Schurkenjägerin“ und zeigt einen geschwächten Batman, der sich mit Sumpffieber infiziert hat. Batgirl wird daher zu seiner Beschützerin, ohne dass er davon weiß, wodurch es aber zu einem für alle Beteiligten belastenden Gezerre um Robin kommt. Eine etwas arg konstruierte Geschichte, die sich aber inhaltsschwanger um Themen wie Loyalität, Eifersucht und Loslassen dreht – und um Batgirls Moped-Widget, den spektakulären Spektrographlichtpfeilstrahl! Die Story endet mit einem vielversprechenden Cliffhanger in Bezug auf Catwoman…

„Die Schurken der 60er, Teil 2“ porträtiert Poison Ivy, Scarecrow und den Pinguin, woraufhin der Zweitgenannte in „In der Hand des Schreckens!“ aus dem März 1968 seinen großen Auftritt bekommt. Die Geschichte um Scarecrows Furchterzeugungspille tendiert gen Horror, nebenbei werden Batmans und Robins Origin-Storys eingeflochten. Robin wird als „titanischer Teenager“ alliteriert und neben Scarecrow geben sich zahlreiche weitere Schurken ein Stelldichein. Das Finale fällt deftig aus, von Klamauk keine Spur. Offen bleibt nur, wie zur Hölle diese Pille funktioniert. Eventuell wurde diese Geschichte nicht ganz zu Ende gedacht…? „Überraschung! Du bist tot!“ heißt es anschließend für Batgirl („die schattenhafte Schönheit“) in dieser Geschichte aus dem Juni 1969. Es geht um Mummenschanz und Verwechslungen, um Menschen in Superheldenkostümen, die meisten davon Verbrecher…

„Eine Kugel zuviel!“ aus dem Dezember 1969 bedeutet eine Zäsur: Robin verlässt Wayne Manor, um aufs College zu gehen, woraufhin Bruce mit Diener Alfred ins Zentrum Gothams umzieht. Diese Geschichte markiert die Wiedergeburt des realistischeren Stils und die Einzug haltende Sozialkritik in die Batman-Welt. Die Wayne-Stiftung wird ins Leben gerufen und fungiert als Opferschutz- und -hilfsorganisation. „Eine Kugel zuviel!“ mit ihrem seltsam offenen Ende steht stellvertretend für das nach dem Ende der TV-Serie reaktivierte, bereits zuvor von Schwartz intendierte Konzept, Geschichten ohne Superschurken, dafür einfacheren Gangstern zu entwickeln (worüber die vorangestellte Infoseite „Die Rückkehr zum dunklen Ritter“ in Kenntnis setzt). Diese Art von Batman-Geschichten dominierte dann offenbar eine Weile die Comicreihe, bis man irgendwann in den 1970ern zur von mir favorisierten Kombination aus Realismus, sozialem Gewissen und psychopathischen Überschurken überging, bis es wiederum Mitte der 1980er zur „Crisis on Infinite Earths“ kam und das gesamte DC-Universum quasi neu geschrieben werden musste.

Auch die Erläuterungen am Ende dieser letzten Geschichte des Bands wurden leider nicht übersetzt. Bei den sporadisch auftretenden Werbeanzeigen bin ich hingegen froh darüber, dass sie jeweils im Original belassen und nicht durch Dino-verlagseigene Anzeigen ersetzt wurden. Eigenartig ist jedoch, dass man orthographisch eigentlich voll auf der Höhe ist, die letzte Seite mit den Zeichner-Kurzporträts aber offenbar am Lektorat vorbei ins Buch fand. Das ist etwas schade für einen ansonsten überaus gelungenen Sonderband, der neben viel Comic-Geschichtsunterricht auch überaus lesenswerte Geschichten aus einer längst vergangenen Dekade kompiliert, von denen es viele zuvor nie nach Deutschland geschafft haben dürften. Bemerkenswert sind auch ihre jeweiligen Establishing Shots, die i.d.R. herrlich reißerisch suggerieren, dass eigentlich alles aus sei.

Dieser Band wird sich gut in meinem Regal zwischen den Zusammenstellungen noch älterer Batman-Comics und meiner geliebten Sammlung jener genannten ‘70er- und ‘80er-Ausgaben machen.

Markus Caspers – Die 80er – Alles so schön bunt hier!

Noch vor der großen ‘80er-Jahre-Retrowelle, genauer: im Jahre 2007 veröffentlichte der Kölner Verlag Naumann & Göbel (NGV) Markus Caspers gebundenen großformatigen und kommentierten Bildband mit abwischbarer Oberfläche und auf festem, hochwertigem Papier: Rund 260 Seiten stark, mit über 400 Bildern. Böse Zungen behaupten, die ‘80er hätten auch eine abwischbare Oberfläche gehabt, verkennen dabei aber, dass unterkühlte Neo-noir-Ästhetik und synthetische Musik Ausdruck eines Zeitgeists und eines Lebensgefühls waren (und sind), das sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzte und entwickelte – und gern an konformistischen, konsumorientierteren Oberflächlichkeiten kratzte.

Die ‘80er reichen auch hier von 1980 bis 1989 statt von 1981 bis 1990, die ‘80er also nicht als Dekade, sondern als Zeitraum von Jahren mit einer 8 an der Zehnerstelle und somit der verbreiteten umgangssprachlichen Definition folgend. Anspruch Caspers war es – so sein Vorwort –, die Leserinnen und Leser in jene Zeit zurückzuversetzen. Unterteilt hat er seine Zeitreise in die Kapitel Politik, Konsum, Momente, Style, Jugend, Pop, Kunst, Fernsehen, Design, Mode, Sport und Film, von denen einige eine eigene Einleitung erhalten (fünf Euro ins Alliterationsschwein…). Mit der Politik zu beginnen, ist eher ungewöhnlich und zeugt von einer anderen Herangehensweise als sie beispielsweise fünf Jahre zuvor das Bravo-Sonderheft an den Tag legte. Der Blick auf die Politik ist indes sehr BRD-zentriert. Neben der Bundespolitik geht es um Nachrüstung, Atomkraftwerke und Proteste, bevor es mit Glasnost internationaler wird. Das Kapitel endet mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989.

Weniger Seiten stehen fürs Kapitel Konsum zur Verfügung, auf denen es neben durchaus auch kritischen Worten zu Produktion & Umwelt, Essen & Trinken und dem Geschäft damit viel um den Einzug der Computer und des Digitalen in die Haushalte geht. Der bundesdeutsche Blick fällt im Kapitel „Momente“ erneut auf, wenn es um den ersten Westdeutschen im All, die Rote-Armee-Fraktion, Matze Rust, Hitlers vermeintliche Tagebücher, Rösner & Degowski und Ramstein geht. Aber auch Prinz Charles und Lady Di, Grace Kellys Tod und die Explosion der Challenger werden aufgegriffen. Im Style-Kapitel schreibt Caspers statt von der Postmoderne von Ekklektizismus [sic] sowie vom Ende des Funktionalismus zugunsten eines bunter werdenden Alltags und einer ästhetischen Radikalisierung. Damit fasst er gut zusammen, was die ‘80er-Ästhetik ausmachte – wenngleich das Jahrzehnt dazu noch genuin Eigenes recht dominant addierte (stärker als spätere Dekaden).

Über Stilmix, Styling und Design geht es schließlich zum Kapitel Jugend, in dem – einem späteren separaten Kapitel zum Trotz – der Mode-Aspekt dominiert und Jugendsubkultur leider lediglich (aber immerhin!) in Form von Punk stattfindet. Dafür schaffte es auch die DDR-Jugend auf zwei Seiten. Der Übergang zum Kapitel Pop ist folgerichtig und bemüht sich, bis hin zur Klassik möglichst viele Richtungen abzudecken, wobei die Neue Deutsche Welle den Löwenanteil abbekommt. Das (kurze) Kunstkapitel, das sich der bildenden Kunst widmet, gibt es woanders nach meinem derzeitigen Kenntnisstand nicht einmal so ähnlich. Schade nur, dass statt der Kunstwerke (aus urheberrechtlichen Gründen?) Fotos der Künstler abgedruckt sind…

Das Fernsehkapitel deckt erwartungsgemäß TV-Serien und -Shows ab, endet aber leider mit MTV und „Die Privaten kommen“ – wenngleich letztere seit 1984 sendeten und zumindest das Fernsehen der zweiten Hälfte des Jahrzehnts maßgeblich mitprägten. Obwohl das Kapitel mit einem doppelseitigen Foto aus „Alles nichts, oder?!“ eröffnet, erfährt man darüber leider nichts. Das Kapitel „Design“ knüpft auf sehr interessante Weise quasi direkt ans Style-Kapitel an, sodass mir nicht klar ist, weshalb man diese nicht zusammenfasste (zumal unter „Style“ ein Abschnitt mit „Design“ überschrieben ist). Verschiedene Stilrichtungen vom Haushaltsgegenstand bis zur Architektur werden beim Namen genannt, was über übliche ‘80er-Retrospektiven angenehm hinausgeht. Das Modekapitel hingegen liefert den einen oder anderen guten Ansatz, bietet aber leider hauptsächlich wenig repräsentative, gestellte Fotos aus extravaganten Katalogen oder von weltfremden Designern.

Im Sportartikel versucht Caspers, möglichst viele relevante Sportarten abzudecken, nimmt dabei aber wieder eine fast ausschließlich deutsche Perspektive ein und verzichtet zu meinem persönlichen Bedauern auf die Herren-Fußball-EM 1988, obwohl diese in Deutschland stattfand. Berücksichtigt werden dafür die Weltmeisterschaften 1982 (Spanien) und 1986 (Mexico) sowie viel Olympia und Tennis. Abschließend stellt das Filmkapitel nach einigen bedeutsamen deutschen Werken das Jahrzehnt prägende internationale Produktionen vor, spart aber auch extrem viel aus, allem voran die Horrorsparte. Und nicht einmal Schwarzenegger wird mit einer Silbe erwähnt.

Diese Oberflächlich- und Unvollständigkeit ist symptomatisch für das ganze Buch, das es dennoch versteht, gezielt einzelne Schlaglichter zu setzen und Ereignisse, Phänomene, Produkte oder Menschen exemplarisch herauszustellen. Caspers führt nicht aus, er skizziert. Größtes Pfund des Buchs sind seine tollen Fotos, die man noch nicht unbedingt von woanders her kennt. Zudem verfügt Caspers über einen recht elaborierten Sprachstil, jedoch auch über eine mitunter etwas eigenwillige Zeichensetzung (beispielsweise fehlt öfter das Komma hinter Einschüben). Seine im Buch hervortretende Affinität zu Style und Design erklärt sich aus seinen Tätigkeiten über die Schriftstellerei hinaus: Er ist Professor für Gestaltung und Medien und Dozent für Designtheorie.

Als Grundlage ist „Die 80er – Alles so schön bunt hier!“ gut geeignet, um von hier aus tiefer in die jeweilige Thematik (oder auch ganz allgemein ins faszinierende Jahrzehnt) einzusteigen. Oder man begnügt sich damit, die Fotos zu betrachten, denn die Bilderwahl ist, wie erwähnt, überwiegend sehr gelungen. Im Hinterkopf sollte man dabei jedoch stets die bundesdeutsch geprägte Perspektive und den großen Mut zur Lücke dieses Werks behalten.

Gerald Fricke / Frank Schäfer – Für alles gibt’s ein erstes Mal. Das Buch der Bahnbrecher, Vordenker und Neutöner

Nach dem „Campus-Wörterbuch“ sowie den Jahrzehnts-Retrospektiven „Die Goldenen Siebziger: Ein notwendiges Wörterbuch“ und „Petting statt Pershing: Das Wörterbuch der Achtziger“ arbeiteten die Braunschweiger Autoren Gerald Fricke und Frank Schäfer erneut für ein (auf den ersten Blick vielleicht nicht gleich als solches erkennbares) humoristisch zurückblickendes Buch zusammen: Der 290-seitige Schmöker „Für alles gibt’s ein erstes Mal. Das Buch der Bahnbrecher, Vordenker und Neutöner“ ist im Jahre 1999 bei Hoffmann und Campe als Paperback erschienen.

Die fünf Hauptkapitel „Alltag“, „Technik und Entwicklung“, „Kunst und Kultur“, „Politik und Ökonomie“ und „Eros“ werden jeweils in drei Unterkapitel aufgeteilt, die wiederum die jeweiligen Abschnitte zu irgendwann einmal neugewesenen Erfindungen, Ereignissen oder Phänomenen anordnen. Jedem Hauptkapitel ist ein Vorwort vorangestellt, ein Literaturverzeichnis und tabellarische Schnellübersichten finden sich im Anhang. Natürlich handelt es sich um keine knochentrockene, seriös-lexikalische Faktenanhäufung, sondern um eine mit (vor allem geschichtlicher) Bildung und Wortgewandtheit der Autoren prahlende Sammlung voll süffisantem und sarkastischem Humor, die sich gern vergessener Kuriositäten annimmt oder diese möglicherweise gar selbst erschwindelt (‘tschuldigung, „erfindet“) und eine ironische bis satirische Perspektive einnimmt, um das jeweils Beschriebene durch den Kakao zu ziehen, überspitzt zu ehren, zu kommentieren oder auch zu dekonstruieren oder gar kurzerhand zum Anlass zu nehmen, eigentlich über etwas ganz anderes zu schreiben (und gegenwartsbezogene Kritik zu üben, beispielsweise an der SPD). Unter „Die erste Midlife-Crisis“ wird einem sogar eine Nick-Hornby-Buchkritik untergemogelt.

Das ist anfänglich mitunter gewöhnungsbedürftig und man muss sich etwas durchbeißen, um sich in diesen Stil einzufinden, macht aber Spaß, hat man sich erst einmal eingegroovt. Dass Fricke u.a. für die „Titanic“ schrieb, verwundert da wenig. Zudem lädt die Unterteilung in kurze, in sich abgeschlossene Abschnitte dazu ein, sie häppchenweise zu konsumieren, wobei sich jedoch schnell das „Einer geht noch, na gut, noch einen, wenn noch einer muss…“-Phänomen einstellt – ein bisschen wie in der Kneipe also. Ausnahmen bestätigen die Regel; so gerät „Die erste Daily-Soap“ zu einer mehrseitigen Abhandlung über Kaiser Wilhelm II. Beim ellenlangen Essay über George Washington als Kind muss die Frage „Wahn oder wahr?“ erlaubt sein. Und der Abschnitt zum Promotionsrecht für Ingenieure avanciert zu einer fünfseitigen, hochinteressanten Rückschau auf ein elitäres, schöngeistiges, wohlfeiles und weltfremdes Bildungsbürgertum – und damit ein Stück weit auch auf die Rollen, die die Autoren hier einnehmen.

Diese äußern sich u.a. in der seinerzeit bei Schäfer noch so beliebten Verwendung möglichst unverständlicher Fremdwörter wie „pantagruelisch“ (deftig), „petillierenden“ (S. 173, scheint man sich selbst ausgedacht haben – oder mir ist ein Wortspiel entgangen) oder „Gravamina“ (LK Geschichte: Beschwerden gegen die katholische Kirche anno dazumal). Damit übertreibt man es glücklicherweise nicht, stellt sich in dieser Hinsicht dagegen sogar selbst mal ein Beinchen: Es heißt „Pommes rot-weiß“, nicht „Schranke rot-weiß“ (das wäre redundant), der „Flotte Teens und heiße Jeans“-Regisseur heißt Tarantini, nicht „Tarantino“ (mit Verlaub, aber das ist jemand anderer), Nando Ciceros Film mit Edwige Fenech ist „Die Bumsköpfe“ betitelt, nicht „Die heiße Lehrerin“ (so nannten ihn Fricke, Schäfer & Co. vielleicht damals auf dem Schulhof), aus Regisseur Giuliano Carnimeo wird „Carmineo“ gemacht und aus Marino Girolami „Mariano“. Einige Abzüge in der B-Note also für den Abschnitt über die Commedia sexy all’italiana, über den ich mich als delirierender Italophiler dennoch gefreut habe. Eines noch: Der Vorspann der „Sendung mit der Maus“ ist zweisprachig, nicht der Abspann.

Etliche Texte dieses Buchs sind kreative Hochleistungen voll im Saft stehender junger Autoren, deren diebische Freude am Schreiben deutlich hervortritt. Wo man sich stark von andere hat inspirieren lassen bzw. zitiert hat, sind entsprechende Literaturverweise den Texten angefügt. Darunter findet sich manch kuriose Quelle oder auch mal jemand aus dem eigenen Bekanntenkreis Frickes und Schäfers (Gerhard Henschel auf S. 121). Schade, dass man beim Cornflakes-Artikel die Chance versäumte, herauszustellen, welch derangierter Typ John Harvey Kellogg eigentlich war und welche Ansichten er vertrat (knapp zusammengefasst: Cornflakes sollten ohne Zucker serviert werden und scheiße schmecken, um die Menschen vom Masturbieren abzuhalten). Das wäre eigentlich prädestiniert für eine satirische Verarbeitung gewesen. Nicht alle Texte in „Für alles gibt’s ein erstes Mal“ sind Volltreffer, aber die Trefferquote ist recht hoch und wer Freude an originellem Infotainment, auch mal herausfordernderer Satire und spitzzüngigem Humor mit Herz und Blick für Kuriositäten hat, dürfte mit diesem Buch seine Freude haben – auch wenn der Fabulierdrang Frickes und Schäfers in Zeiten von Propagandakriegen, Faktenchecks, Aufmerksamkeitsökonomie und in Sekundenbruchteilen erfassbarer Memes wenig zeitgemäß wirkt. Oder auch deshalb gerade doch.

Die 80er – Das WILDE Jahrzehnt! Ein BRAVO-Special

Bevor die Renaissance der Popkultur des 1980er-Dezenniums in den 2010er-Jahren erfolgreich vollzogen wurde, gab es in der ersten Hälfe der 2000er bereits Unternehmungen in diese Richtung. Spielzeughersteller Mattel legte die „Masters of the Universe“-Actionfiguren wieder auf und gab sogar eine neue Zeichentrickserie in Auftrag, Modern Talking waren bedauerlicherweise bereits seit 1998 (bis 2003) wieder aktiv, Iron Maiden brachten mit ihrer Reunion den klassischen Heavy Metal der ‘80er international weit über den Underground hinaus zurück aufs Tapet, Nena feierte mit Neuaufnahmen alter Hits ihr 20-jähriges Jubiläum, No Doubt beherrschten mit ihrer Talk-Talk-Coverversion „It’s My Life“ die Charts – und der Kölner Privatsender RTL, selbst eine Geburt der ‘80er, ließ von Günther Jauch, einem Unterhaltungssendungsmoderator, der in den 1980ern seine Popularität erlangte, die mehrteilige „80er Show“ produzieren. Diese wirkte etwas bemüht, als gelte es, ein Revival zu erzwingen, und war schlicht ungefähr zehn Jahre zu früh dran.

Denn: Die Versuche, die Populärkultur der ‘80er wieder aufzugreifen, waren damals noch eher zaghaft und halbherzig – oder gar nicht zwingend intendiert. Modern Talking, seit jeher ein extrem artifizielles Retortenprodukt, peppte die alten Charthits mit Rap-Elementen und einem moderneren Soundgewand auf, um eben nicht mehr nach den ‘80ern zu klingen. No Doubts „It’s My Life“ wurde zu einer (gelungenen!) Alternative-Rock-Nummer, die musikalisch gerade nicht den Synthie-Pop des Originals aufgriff. Und im Gegensatz zur Neuauflage aus den 2010ern sahen He-Man, Skeletor & Co. überhaupt nicht mehr nach dem Originalen aus den 1980ern aus, sondern verfügten über ein komplett neues Design, bis hin zu einem neuen Logo der Actionfigurenreihe (was heute undenkbar wäre). So richtig retro war hier kaum etwas.

Beim Heinrich-Brauer-Verlag und bei RTL sah man in einer die ‘80er zum Aufhänger nehmenden Print-Kooperation offenbar dennoch Potenzial, gegenseitig voneinander zu profitieren, und brachte im Jahre 2002 diese 68-seitige Publikation für lumpige 2,50 EUR an die Kioske des Landes, die in erster Linie für die vom unseriösen Nachmittags-Trash-Talker Oliver Geissen moderierte „80er Show“ die Werbetrommel rührte. Und diese sieht aus, wie eine Bravo eben so aussieht: Viele Bilder, wenig Text. Von der Titelseite lacht einem Nena entgegen, das Vorwort stammt von Oliver Geissen. Auf je einer Doppelseite pro Jahrgang lässt man die Zeit von 1980 bis 1989 Revue passieren, wobei der Schwerpunkt auf der Musik liegt. „Now and then“ stellt Fotos Prominenter von damals und heute (also 2002) gegenüber, die erfolgreichsten Kinofilme werden auf sechs Seiten kurz angerissen, vier Seiten widmen sich dem (zielgruppenrelevanten) deutschen Fernsehen der ‘80er. Weitere sechs Seiten, „Lifestyle der 80er“ überschrieben, werden zum Sammelsurium für alles, was nicht in die anderen Rubriken passte, und „Der Humor der 80er“ zu einer müden Witzesammlung, immerhin angereichert mit ganz wenigen Informationen zu relevanten Comics und Cartoons. Ein Quiz, zwei Seiten zur DDR-Popkultur und Tipps für eine zünftige ‘80er-Party, in der Werbung für RTL- und Bravo-‘80er-Hit-Kompilationena auf CD gemacht wird, beschließen das Heftchen.

Der Tonfall der spärlichen Texte ist betont flapsig und „jugendlich“, dabei inhaltlich oberflächlich und nicht immer ganz akkurat. Ein großformatiges „Kultposter“ in der Heftmitte ist auf einer Seite mit einer vergrößerten Bravo-Titelseite aus den ‘80ern mit Adam Ant als Covermodell bedruckt, auf der anderen Seite mit den unvermeidlichen Modern Talking in schlimmen Outfits. Die gefühlte Omnipräsenz Dieter Bohlens ist dabei sicher kein Zufall, begann er doch im Erscheinungsjahr dieses Hefts als „Deutschland sucht den Superstar“-Juror eine steile TV-Karriere bei RTL.

Zu einem ganz groben, schnellen Überblick über die ‘80er aus bundesdeutscher Mainstream-Perspektive taugt dieses Sonderheft sicherlich, seine Oberflächlichkeit, einhergehend mit mal mehr, meist weniger versteckter Werbung fürs RTL-Geissen-Bohlen-Konglomerat erweist sich aber als ebenso störend wie seine aufgesetzt wirkende Coolness. Nichtsdestotrotz erzielen vollständige, gut erhaltene Exemplare mit Poster auf dem Sammlermarkt mittlerweile zumindest ein Vielfaches des ursprüngliches Verkaufspreises.

Mad-Taschenbuch Nr. 40: Larry Siegel / Angelo Torres – Das Mad-Fummel-Buch

„Alles, was Sie noch nie über Sex wissen wollten und deshalb auch keine Lust hatten, danach zu fragen“, heißt es noch auf dem Cover. Texter Larry Siegel hatte bereits für das neunte Mad-Taschenbuch mit George Woodbridge zusammengearbeitet; diesmal steht ihm stattdessen Zeichner Angelo Torres zur Seite, der in der Nr. 25 mit Tom Koch „Das Mad-Buch der Weltgeschichte“ zu Papier gebracht hatte.

In elf sich über den gewohnten Gesamtumfang von rund 160 Schwarzweißseiten erstreckenden Kapiteln plus einem Vorwort widmet man sich in diesem im Original 1979, in der deutschen Fassung 1983 erschienenen Büchlein satirisch der Sexualität. Ob das gutgeht? Zunächst hat es nicht den Anschein: 18 Seiten lang muss man einen leider nicht sonderlich lustigen historischen Ausflug in die Steinzeit über sich ergehen lassen, der, wie große Teile des Buchs, Fließtext mit recht üppigen karikierenden Zeichnungen illustriert. Die nun folgenden „Ratgeber“ sind da schon wesentlich gelungener, indem sie den trockenen Stil seriös gemeinter Ratgeber persiflieren. Ein weiteres Kapitel veralbert in einseitigen, einpaneligen Comics Berufsklischees, das darauffolgende Rekordsammlungen à la Guinness-Buch. Ein amüsanter Comic greift das Phänomen auf, dass man mit verschiedenen Personen ganz unterschiedlich über seine Erlebnisse redet, während „Fummeln rund um die Welt“ in Form gezeichneter Gags Kulturklischees ad absurdum führt. „Mad’s große Kneipenfummelfibel“ nähert sich dem Thema ganz im hintersinnigen Stile des neunten Mad-Taschenbuchs, der „große[n] Mad-Lebensfibel“; auf einen kurzen Comic folgt ein satirischer und hübsch bebilderter Vergleich von Spielfilm und Realität und erneut in Comicform werden schließlich verschiedene Methoden durchdekliniert – im typischen Mad-Humor, versteht sich.

Nach seinem schwachen Einstieg bekam auch dieses Mad-Taschenbuch die Kurve und wurde zu einem spaßigen, mal nachdenklichen, viel öfter aber albernen, dabei aber nie pubertären Blick auf die Welt des Baggerns, Fummelns und Knatterns aus Mad-Perspektive. Leichte Abzüge gibt’s für den befremdlichen Chauvi-Gag auf S. 125, laut dem üblicherweise der Mann den Haushalt schmeiße und die Frau arbeiten gehe – ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Konstellation im Jahre 1979 allzu verbreitet war…

Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 10: 1969 – 1970

Mit diesem Band endet die zweite Dekade der „Peanuts“, und zwar formal in gewohnter Qualität: Auf rund 330 gebundenen Seiten stellte der Hamburger Carlsen-Verlag alle jeweils vier Panels umfassenden Zeitungsstrips und großformatigen Sonntagsseiten, die der US-Amerikaner Charles M. Schulz in den Jahren 1969 und 1970 gezeichnet und getextet hat, in chronologischer Reihenfolge unkoloriert in deutscher Übersetzung zusammen. Das Vorwort stammt diesmal von Pierre Christin, dem Autor der französischen „Valerian & Veronique“-Science-Fiction-Comics, der über seine Zeit in den USA berichtet: unter anderem darüber, wie er dort die „Peanuts“ für sich entdeckte, über kulturelle Unterschiede zu seiner französischen Heimat und speziell den franko-belgischen Comics, den Einfluss auf seine eigenen Comics sowie die historische und soziale Verwurzelung und kulturelle Bedeutung der „Peanuts“-Comics. Wie gewohnt erläutert ein aufschlussreiches Glossar für ein aktuelles Publikum nicht mehr unbedingt selbsterklärende Inhalte der Strips. Darüber hinaus sind Gary Groths Nachwort und der Stichwortindex als feste Instanzen auch in diesem Band enthalten.

Im Januar 1969 bekommen wir es mit viel Eiskunstlauf zu tun, denn Snoopy will an den Meisterschaften teilnehmen. Es wird aber auch ein wenig mysteriös: Woher weiß sein Herrchen Charlie Brown das? Außerdem erreicht die Hippiewelle den Beagle. Lucy reagiert auf Schroeders Zurückweisungen mit Gewalt gegen sein Klavier, wirft es gar dem drachenfressenden Baum zum Fraß vor. Snoopy begeistert sich immer mehr für Kufensport und spielt auch Eishockey. Und zu Linus‘ Entsetzen wird seine Lieblingslehrerin Fräulein Othmar gefeuert. Im März wird die geplante Mondlandung thematisiert, indem Snoopy auf seiner Hütte anstelle eines Weltkriegspiloten einen Astronauten mimt. In jenem Monat beginnt traditionell auch die neue Baseball-Saison, die ersten Spiele gehen selbst für Charlies Verhältnisse rekordverdächtig hoch verloren… Snoopy spielt derweil mit Vorliebe Präriehund, setzt also auch seine Tierimitationen fort. Am 8. April ’69 aber bricht er auf, um seine Mutter zu suchen. Hierbei ist es etwas schade, dass Schulz für eine Sonntagsseite mit der Kontinuität der Handlung brach. Am 17. Mai taucht Woodstock (im wahrsten Sinne des Wortes) erstmals auf, noch ist Snoopys neuer bester Freund und zukünftiger Begleiter namenlos. Er vermisse seine Familie, die während seines Jungfernflugs kollektiv die Flatter gemacht habe. Apropos: Am 1. Juni gibt Snoopy erstmals wieder das Flieger-Ass. Doch weil die Browns für zwei Wochen in den Urlaub fahren, muss der Bedauernswerteste zu Lucy. Anschließend braucht Charlie Urlaub vom Urlaub.

Mitte Juli zieht das kleine rothaarige Mädchen weg, ohne dass Charlie auch nur einmal ein Wort mit ihr gewechselt hätte – womit der Themenreigen um Verlust und Sehnsucht komplettiert wird. Snoopy imitiert nun wieder bevorzugt Geier und schreibt an einem Roman, wobei er aber kaum über den ersten Satz hinauskommt. Eine weitere bedeutende Veränderung ist die Einschulung Sallys im September; sie ist schon Wochen vorher ganz aufgeregt. Snoopy bekommt seinen Roman tatsächlich fertig (der auf nur eine Seite zu passen scheint) und sendet das Manuskript ein – erfolglos. Lucy hingegen entwickelt tatsächliche Qualitäten als Psychologin – und Snoopy beim Football-Spiel mit seinen gefiederten Freunden. Peppermint Patty scheint nicht zu kapieren, dass Snoopy ein Hund ist, spricht stattdessen immer von einem „komischen Knaben mit Rübennase“. Das genaue Gegenteil ist da Frieda, die Snoopy zur Kaninchenjagd abzurichten versucht und ihm bei Nichtbefolgen mit dem „Großen Beagle“ droht. Am 19. Oktober 1969 bricht Schulz erneut mit der Kontinuität, was zumindest für mein Empfinden jedes Mal sehr heraussticht. Was macht Linus eigentlich? Der schreibt statt an den „Großen Kürbis“ diesmal dem „Großen Beagle“, weshalb sein Halloween-Irrglaube diesmal überraschenderweise kein Thema ist. Woodstock kann nicht in den Süden fliegen und verdingt sich als Hausmeister (eigentlich eher Gärtner) bei Snoopy, womit erklärt wird, weshalb er von nun an quasi ganzjährig an des Beagles Seite ist. Im Herbst schreibt Snoopy an einem neuem Roman inklusive versteckter Anspielungen auf Superman, gewissermaßen also kleinen Seitenhieben Schulz‘ an die DC-Kollegen. Es kristallisiert sich heraus, dass Sally in der Schule gar nicht klarkommt, woraus sich ein neues, immer wieder aufgegriffenes und recht ergiebiges Gag-Motiv ergibt. Im Winter fahren Charlie, Linus und Snoopy bei einem Skikurs der Schule mit. Dort sieht Charlie das kleine rothaarige Mädchen wieder, bekommt vor dessen Heimfahrt aber keine Gelegenheit mehr, es anzusprechen. Das ist einerseits sehr tragisch, zeigt aber andererseits, dass Schulz offenbar noch nicht bereit war, dieses Figur aufzugeben. Anstelle eines Silvesterstrips wird die Handlung um das Skifreizeittrio beim Sportbankett fortgesetzt.

Aus diesem Grunde gibt es auch keinen speziellen Neujahrsstrip, hier nahm es Schulz mit der Kontinuität dann also doch wieder sehr genau. Anfang des Jahres 1970 wird die Mythologie um den „Großen Beagle“ weitergeführt. Snoopy verliert stets gegen den noch immer namenlosen Woodstock beim Eishockey auf dessen gefrorener Vogeltränke – ein herrliches, zum Klassiker gewordenes Bild. Und wieder trainiert der Unverbesserliche für die Eiskunstlaufweltmeisterschaft… Im Februar wird Snoopy überraschend zum „Großen Beagle“ ernannt – zum Entsetzen der missgünstigen Lucy. Und weil das mit viel Bürokratie verbunden ist, wird Woodstock sein Sekretär. Doch bereits im März gibt er das Amt wegen Überforderung wieder auf. Woodstock schreibt anschließend eine Enthüllungsstory über seine Zeit als Sekretär des „Großen Beagle“, Snoopy an seiner Autobiografie. Aus der anfänglich eher mystischen Gestalt des „Großen Beagles“ macht Schulz also eine Art Parodie auf hohe politische Ämter. Ab dem 30.03. wähnt sich Lucy plötzlich als Feministin, womit die Frauenbewegung mit etwas Verspätung auch bei Schulz und den „Peanuts“ angekommen ist. Lucy will daher keinen Baseball mehr spielen. Immer mal wieder schreibt Snoopy an seinem Roman weiter und versucht, all seine einzelnen Ideen miteinander zu verbinden, was zunehmend autobiografisch in Bezug auf Autor Schulz anmutet – Snoopy als dessen Alter Ego? Woodstock hat die Marotte entwickelt, kopfüber zu fliegen, während Charlie Brown offenbar das Interesse am Drachensteigenlassen verloren hat – darum geht es in diesen beiden Jahren kaum. Die Interaktionen zwischen Snoopy und Woodstock werden immer niedlicher, Charlie hingegen immer willenloser – und am 22. Juni ist es endlich so weit: Woodstock erhält seinen Namen!

Im Juli greift Schulz die Proteste gegen den Vietnamkrieg auf, indem er eine Analogie schafft, in der Snoopy am Nationalfeiertag eine Rede auf der Daisy-Hill-Welpenfarm halten soll, was jedoch im Tumult untergeht. Dafür verliebt er sich dort. Woodstock leidet unter mangelndem Gleichgewichtssinn und seine Flugkünste sind auch noch nicht sonderlich ausgeprägt, ähnlich wie Charlies Baseball-Talent – doch hat sich Charlie in seiner Rolle als Mannschaftskapitän zumindest einen letzten Rest Autorität und Respekt bewahrt, was erklärt, warum er noch immer seine Gurkentruppe anführt. Ende August schlüpft Snoopy in eine neue Rolle: Er spielt „weltberühmter Supermarktkassierer“, was ein neues Motiv für eine Reihe schöner Gags wird. Ab Herbst spielt er wieder Eishockey und der „Große Kürbis“ feiert seine Renaissance – zumindest in Linus‘ Fantasie. Woodstock überwintert bei Snoopy, nachdem dieser erfolglos versucht hat, ihn in den Süden zu bringen, womit Schulz weiter darauf vorbereitet, dass diese noch junge Figur ganzjährig dem Ensemble angehören wird. Am 8. und gleich darauf am 15. November sind wieder Kontinuitätsbrüche für Sonntagsseiten zu beklagen. Ein ernsteres Thema wird zumindest angerissen: Patty hält sich nicht für hübsch und hadert immer wieder mit ihrem Aussehen. Ein Running Gag: Bevor Charlie ihr etwas Aufmunterndes entgegnen kann, biegt Snoopy um die Ecke und drückt ihr einen Schmatzer auf. Generell knutscht Snoopy hier so viele Peanuts unvermittelt wie nie zuvor – vornehmlich Lucy, zu ihrem Leidwesen. Deren Psychoberatung nimmt natürlich wieder viele 5-Cent-Stücke ein.

Apropos Running Gag: In beiden Jahren gibt es naturgemäß neue Episoden um Lucy, den Football und den einmal mehr auf sie hereinfallenden Charlie. Die „Peanuts“-Figuren und ihre Marotten sind mit Woodstock nun vollzählig. Schulz variiert ihre Geschichten innerhalb nahezu fester Parameter, die er nur noch behutsam ausweitet. Aktuelles Zeitgeschehen lässt er hingegen nach wie vor mit Freude einfließen und zwischen den Zeilen bzw. Sprechblasen und Zeichnungen lässt sich sicherlich hier und da ablesen, wie Schulz jeweils darüber dachte. Dies dürfte i.d.R. zweifelnd und abwartend gewesen sein und so blieb er vornehmlich dabei, innerhalb des „Peanuts“-Mikrokosmos unzulängliches Sozialverhalten, witzige Eigenarten, naive Weltanschauungen und persönliche Schwächen, Ängste und Enttäuschungen zu karikieren und sie dabei zugleich liebevoll zu hegen und zu pflegen.

Copyright © 2025 Günnis Reviews

Theme von Anders Norén↑ ↑