Günnis Reviews

Autor: Günni (page 10 of 104)

Ronald M. Schernikau – Die Tage in L.: Darüber, dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur

„daß du diese kritik so frei äußern kannst! es beweist, daß sie nicht stimmt! – das ist die drohung mit dem faschismus. sie ist immer da.“ (S. 22)

Auf Ronald M. Schernikau war ich einst aufmerksam geworden, als ich im Tauschschrank seinen im Hamburger Konkret-Verlag veröffentlichten Briefwechsel mit Peter Hacks fand und nach anfänglicher Skepsis interessiert verschlang. Schernikau war ein 1960 in der DDR geborener, als Kind mit seiner Mutter in die BRD übergesiedelter, offen homosexuell lebender, freidenkender Literat und humanistischer Kommunist, der von 1986 bis 1989 als BRD-Bürger am Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ studierte und in der Wendezeit wieder DDR-Bürger wurde. Bei „Die Tage in L.“ mit seinem sperrigen Subtitel handelt es sich um seine Abschlussarbeit, die bereits 1989 im Konkret-Verlag veröffentlicht und 2001 ebd. neu aufgelegt wurde. Von dieser Fassung liegt mir die zweite Auflage aus dem Jahre 2009 im Taschenbuchformat vor.

„manchmal wundere ich mich, daß die anderen sich nicht wundern, daß ich mich nicht wundere.“

Rund 220 Seiten lang lässt sich der kulturinteressierte und -schaffende Grenzgänger Schernikau in acht Kapiteln über die BRD, die DDR, ihre jeweiligen Menschen und Eigenheiten sowie das gestörte Verhältnis beider Staaten zueinander aus. Ein Vorwort Hermann L. Gremlizas sowie je ein Literatur-, Abkürzungs- und Personenregister runden den Band ab.

Schernikaus in meist kurze, eher selten unmittelbar aufeinander Bezug nehmende Absätze gegliederter Text liest sich wie ein Brainstorming, in dessen Folge es zumindest im ersten Drittel auch mir themenfremd und zusammenhanglos erscheinende Passagen in die Kapitel schafften; zumindest erschließt sich mir ihr Sinn nicht. Das kann indes dem Umstand geschuldet sein, dass Schernikau sehr in seiner Gegenwart verwurzelt ist und sich nicht lange mit Hintergründen und Details aufhält. Damit ist seine Arbeit in Bezug auf die historische und politische Situation des geteilten Deutschlands ein wenig voraussetzungsreich und der eine oder andere Passus eventuell unverständlich, kennt man die genaueren gesellschaftlichen und kulturellen Umstände bzw. Kontexte nicht. Schernikau schreibt durchgehend in Kleinbuchstaben, Fehler wie macdonald’s, cindy (statt cyndi) lauper, intresse, faßbinder (statt fassbinder) und sylvestershow wurden offenbar bewusst nicht redigiert, aus Club-Cola macht er gar klubkola. Mit diesem Stil gilt es, sich erst einmal vertraut zu machen.

Ist diese Hürde genommen, wird es bald zum Genuss, wie der meinungsstarke Autor seine subjektiven Eindrücke schildert und dabei in alle Richtungen austeilt. Als Beispiele für interessante Beobachtungen seien eine plötzliche Scheu selbst in den DDR-Medien, Kommunisten auch als solche zu bezeichnen (S. 81) und eine Umdeutung des Begriffs „Supermacht“ von negativer zu positiver Konnotation (S. 82f.) genannt. Für eines seiner Kapitel befragte Schernikau sieben seiner Bekannten aus der BRD. Nur zwei von ihnen wollten lieber in der DDR leben. Soziologisch interessant ist dabei eigentlich, dass die anderen fünf in ihren Antworten tendenziell Pro-DDR-Argumente liefern. Leider erfährt man nicht, wer die Befragten überhaupt sind.

Auch anderes behält Schernikau leider für sich. Beim Übergang von Seite 100 auf Seite 101 erwähnt er einen russischen Film, der kurz, nachdem er ihn im DDR-Kino gesehen habe, verboten worden sei. Das bleibt unkommentiert, wenngleich man sich sein Kopfschütteln darüber beim Lesen denken kann. Dass er nicht einmal den Filmtitel nennt, ist mir hingegen – außer vielleicht mit Furcht vor Repressalien – unerklärlich. Vielfach referenziert Schernikau explizit auf den Literaturbetrieb hüben wie drüben sowie, etwas weiter gefasst, allgemein auf den Kulturbetrieb, wovon ich als, zumindest in Bezug auf die Literatur, gewissermaßen Außenstehender nicht alles verstehe. Viele Namen musste oder vielmehr wollte ich nachschlagen. Ich verstehe aber etwas von Peter Timms köstlicher Komödie „Meier“, die sich ebenfalls mit dem Verhältnis beider deutscher Staaten auseinandersetzt und die Schernikau als antikommunistisch missversteht. Insofern ist manch harsches Urteil hier sicherlich mit Vorsicht zu genießen.

Auf Seite 114ff. wird es mir dann auch zu einseitig: „einhundert prozent aller, die die ddr verlassen haben, wollen zurück, einhundert prozent.“ Was ist mit denjenigen, die gehen mussten, also herauskomplimentiert wurden? Was mit jenen, die in der BRD Karriere machten? In diesem Abschnitt ist mir sein Loblied auf die DDR zu eindimensional; es findet sich nicht einmal ein Wort zum Verfall der Bausubstanz, die seinerzeit längst kritische Ausmaße angenommen hatte. Im Jahre 1987 war Schernikau dann eine Weile mit auf richtig körperlicher Maloche, worüber er Tagebuch führte. Dieser Abschnitt beweist, dass er davor nicht zurückschreckte, sondern wissen wollte, wie sich der Alltag echter Arbeiter in der DDR anfühlt.

Und er wird im weiteren Verlauf kritischer. Zunächst lässt er sich im siebten Kapitel über nervige Alltagsphänomene aus, beispielsweise über schon an Machtmissbrauch grenzende Unfreundlichkeit einfacher Menschen in Servicepositionen. Dazu findet er überraschend wütende und ernüchterte Worte: „[…] vielleicht hat jede zeit und jedes volk seinen natürlichen anteil an faschisten […] vielleicht erzeugt wirklich jede art von hierarchie auch die unsinnigkeiten von hierarchie, und vielleicht ist es einfach romantisch, in einer sozialistischen hierarchie nur den sozialismus zu erwarten und nicht auch die hierarchie.“ (S. 154) In den Abschnitten 2 und 3 dieses Kapitels holt er dann tatschlich zu einem Rundumschlag in Sachen DDR-Kritik aus, der sich gewaschen hat und beweist, dass er kein blauäugiger Salonkommunist ist. In Abschnitt 4 betreibt er wieder viel Namedropping aus dem kulturellen Bereich; zwischen Ehrerbietungen an DDR-Künstlerinnen und -Künstler reihen sich Gedanken zu Zensur und Kritik an selbiger, was besonders schön in einem Absatz auf S. 184 Ausdruck findet: „also, man darf von einem text nicht mehr den hintergrund analysieren, nicht mehr die haltung des autors, nicht mehr dessen politische meinung, weil immer hat man angst, daß die hauptverwaltung kommt und sagt: wenn das so ist, können wir das aber nicht drucken! die rezensenten reden längst nicht mehr vom inhalt, und von der form zu reden, haben sie vor dreißig jahren verlernt.“

Gegen Ende wagt er dennoch eine vorsichtig optimistische prognose: „sie werden talkshows haben und eine schwulenzeitung, sie werden die urlaubsfotos der politiker veröffentlichen und die zahl der auswanderer. und es kann sein, sie machen es besser als der westen, weil sie klüger sind und souveräner. es kann sein.“ So widersprüchlich sich einiges in dieser Rezension lesen mag, so ergibt es während der Lektüre des Buchs in seiner Gesamtheit doch zumeist Sinn. Schernikau glaubte an ein sozialistisches statt kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und an eine Reformierbarkeit der DDR – bzw. hoffte er zumindest darauf. Dass es nach der Wende mit der Abwahl der Regierung Modrow und dem Wahlsieg der CDU ganz anders kam, ist längst Geschichte. „Die Tage in L.“ ist eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme aus den Jahren davor, geprägt durch die meist klugen, subjektiven Eindrücke einer an den Folgen seiner HI-Virus-Infektion 1991 viel zu jung verstorbenen, streitbaren, furchtlosen und interessanten Persönlichkeit.

Oliver Stolle (Hrsg.) / Sascha Chaimowicz (Hrsg.) – „Eine Kugel Strappsiatella, bitte!“ – 555 unfreiwillig komische deutsche Geschichten

Für den Strandurlaub greife ich ganz gern mal zu möglichst seichter, aber lustiger Literatur. Mit „Was wir tun, wenn der Aufzug nicht kommt: Die Welt in überwiegend lustigen Grafiken“ und „Bauchchirurg schneidet hervorragend ab“ klappte das gut bis hervorragend, in diesem Falle eher so semi. Das 2016 im Münchner Heyne-Verlag erschienene Taschenbuch ist offenbar die Fortsetzung des zuvor erschienenen, mir unbekannten „Ich hätte gerne eine LSD-Leuchte!“. Beiden gemein ist das Konzept: Zusammenstellungen der dem „Stern“-Jugendableger „Neon“ für die Rubrik „Deutsche Geschichten“ eingesandter, zufällig mitgehörter, unfreiwillig komischer Dialogfetzen, derer monatlich drei Stück im Printmagazin abgedruckt werden. Das klingt vielversprechend, zudem erweckt die gelungene Titelgestaltung Aufmerksamkeit und hat das Buch mit seinen rund 200 Seiten auf festem Papier in verschwenderischem Farbdruck eine tolle Haptik.

„Verschwenderisch“ ist jedoch im Wortsinn zu verstehen, denn die Farbverläufe im Hintergrund hätte es ebenso wenig gebraucht wie die 21 willkürlich eingestreuten, oft seitenfüllenden Fotos aus dem Ostkreuz-Archiv, die nicht nur ohne jeden Kontext, sondern i.d.R. leider auch ohne Witz sind. Auf eine erkennbare Sortierung hat man verzichtet; nach einem dreiseitigen Vorwort folgt ein Gesprächsfetzen auf den nächsten, durchnummeriert sowie mit Ortsangabe und Namen des jeweiligen Einsenders respektive der jeweiligen Einsenderin versehen. Jener Zitate tummeln sich ein bis vier pro Seite, darunter mal mehr, mal weniger amüsante Versprecher, Verhörer, Missverständnisse und Doofheiten, aber auch offenbar als vermeintlich mitgehörte Dialoge abgedruckte Witze, was Zweifel an der Authentizität des Materials sät.

Meist alles andere als witzig, dafür umso entlarvender sind diejenigen Zitate, die Ausdruck gesellschaftlicher (Fehl-)Entwicklungen bis hin zu Verrohungen sind und somit, belastbare, authentische Quellen vorausgesetzt, von soziologischem Interesse sein könnte. Vieles ist mir aber ehrlich gesagt schlicht zu belanglos, witzfrei, über Dad-Joke- oder Imbissbudenkaliber nicht hinauskommend, anderes wiederum eher in der jeweiligen Situation komisch, weniger im Buchformat. Alles in allem scheint mir „Eine Kugel Strappsiatella, bitte!“ eine weitestgehend überflüssige Klolektüre zu sein, die in erster Linie für noch wesentlich leichter als mich zu erheiternde Menschen einen Mehrwert darstellen dürfte.

Mit „Deutschland im O-Ton“ ist eine anscheinend recht ähnliche Reihe im selben Verlag erschienen. Möglicherweise ist diese gehaltvoller. Es auszutesten ist mein Interesse aber eher gering…

26.11.2022, Fabrik, Hamburg: Damage Done Fest mit OXO 86 + NORMAHL + EMILS + THE OFFENDERS + HERZBLUT

An diesem Samstag sollte ich mein letztes Konzertticket aus der pandemiebedingten Shutdown-Zeit einlösen. Dieses kleine Indoor-Festival hatte eigentlich schon 2020 stattfinden sollen, wurde dann erfolglos auf 2021 verschoben und – leck mich fett! – fand nun ganz wirklich und ohne jede Covid-19-Auflage statt. Auf meinem VVK-Ticket von damals standen mit TROOPERS statt OXO 86 und EMSCHERKURVE 77 statt THE OFFENDERS noch ganz andere Bands, und gerade jene beiden mal wieder live zu sehen, wäre schön gewesen. Andererseits hielt es manch Beobachter seit jeher für eher unwahrscheinlich, dass die TROOPERS sich tatsächlich würden aufraffen können, und insgeheim war’s mir ehrlich gesagt so’n bischn egal, denn Hauptgrund meines Erscheinens waren – ohne Flachs – NORMAHL. Die Schwaben waren eine der ersten Punkbands, die ich als Kiddie gehört hatte, nicht wenige Songs der bereits Ende der 1970er gegründeten Band sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. Mir ist klar, dass die auch einigen Stuss rausgehauen haben, vom unsäglichen Funpunk-Album bis hin zu Schlagerpunk… Neben den alten HC-Punk-Krachern konnte ich aber durchaus auch etwas mit der rockigeren, ein breitergefächertes Publikum ansprechenden Ausrichtung von Platten wie „Blumen im Müll“ oder „Auszeit“ (mit Abstrichen) anfangen. Wer sonst hat jemals so geil Reinhard Meys „Diplomatenjagd“ gecovert?! Am geilsten aber sind die Alben mit Best-of-Charakter: der ‘85er-Totalabriss „Live in Switzerland“ (quasi das Beste der Frühphase), der anarchosozialistische Politpunk pur und live auf der „Lebendig II – Ernst ist das Leben…“, auf der man einen nach dem anderen raushaut und auch ohne Aggrogesang oder sonderliche musikalische Brutalität unheimlich viel Druck und Energie erzeugt, sowie die „Das ist Punk“ betitelte Zusammenstellung der Klassiker in Neuaufnahmen, wodurch das Songmaterial wie aus einem Guss und glücklicherweise kein Stück überproduziert klingt. Letztere zog ich mir vorm Konzert noch mal rein, wodurch meine Vorfreude stieg. (Noch ein Geheimtipp für Freunde von No-Budget-Filmen:  der Spielfilm „Jong’r“ mit NORMAHL-Mitgliedern!) NORMAHL haben sich zwar beileibe auch in diesen Breitengraden nicht rar gemacht, aber irgendwie hatte es nie sollen sein. Entweder gab’s Terminüberschneidungen oder, so meine ich mich zu erinnern, hatte ich damals schlicht keine Kohle übrig, denn in den ganz kleinen Underground-Clubs, die ich irgendwann bevorzugt aufsuchte, spielten sie eher nicht. Bei den Alben ab den 2000ern bin ich dann doch musikalisch auch weitestgehend raus, weshalb mich die Tourneen dazu seinerzeit nicht so reizten. Es musste also erst der November 2022 kommen, damit ich diese Band erstmals livesehen würde.

Bereits um 18:00 Uhr sollte das Festival in der Altonaer Fabrik beginnen, einem der u.a. aufgrund seiner festen Verwurzelung im Stadtteil und seiner aus den architektonischen Besonderheiten resultierenden speziellen Atmosphäre sympathischeren Kommerzläden Hamburgs. Quasi auf dem Weg dorthin schlenderten meine Liebste und ich noch über den Weihnachtsmarkt in Altona und glühten mit Glühwein vor. Dieser zählt zwar nicht unbedingt zu meinen Lieblingsgetränken, aber nachdem 2020 öffentlicher Glühweingenuss fast schon etwas Subversives an sich hatte und 2021 jede Glühbude eingezäunt und nur nach Angabe der eigenen Personalien, Impfnachweis etc. zu betreten gestattet war, war es tatsächlich irgendwie anheimelnd und gemütlich, sich die Plörre wie unter präpandemischen Bedingungen hinter die Binde zu gießen. Man wird ja so demütig… nicht zuletzt allerdings angesichts der Preise für den Mampf, der da so angeboten wird. Eigentlich ja nett, vielleicht mal anderes Straßenessen als das ganze übrige Jahr zu bekommen, nur gibt’s da leider für unter 8,- EUR kaum noch etwas. Da kannste ja kaum noch gegenanverdienen… also doch wieder zur Dönerbude, Börek, 3 Euro, bitte, danke.

Der Einlass in die Fabrik verzögerte sich etwas, vor den Türen tummelten sich neben einigen bekannten Gesichtern auch etliche nie gesehene. Offenbar zog das Festival auch zahlreiche Gelegenheitskonzertgänger(innen) und Punks von außerhalb an. Einem schon vor Konzertbeginn rotzevollen Iroträger im „Unantastbar“-Shirt wurde der Einlass verwehrt, vermutlich weil er der Security zu breit war. Der Eckkiosk bot für die Zeit vor der ersten Band und zwischen den weiteren eine günstige Alternative zu den überhöhten Bierpreisen im Fabrikinneren, wo man für 0,4-L-Becher Carlsberg schlappe 4,70 EUR aufrief. Jesses… Dafür konnte man an der Garderobe seine Plünnen abgeben und sich die ganze Sause auch auf dem Geländer lehnend von der Empore aus betrachten, was mal was anderes, bei einem Opener wie HERZBLUT aber trotzdem kein reines Vergnügen ist. Die Berliner, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte, spielen angepunkten Midtempo-Deutschrock, den sie vollmundig Punkrock nennen, doch dafür fehlen – u.a. – Rotz und Dreck. Fast jeder Song wurde mit einem unpassenden Moshpart angereichert, bei dem der Drummer auf sein Chinabecken eindrosch. Gegen Ende wurde bei „Du bist Bulle“ (oder so) mal bischn Gas gegeben, ansonsten war gefühlt jeder zweite Song gegen Nazis oder mit Pathos der eher unangenehmen Sorte versehen.  Zur totalen Harmlosigkeit dieser Band passte die Konfettikanone, die gezündet wurde. HERZBLUT wirkten auf mich wie ein Retortenprodukt, aufgesetzt und unauthentisch. Nun wird es sich bestimmt dennoch um eine echte Band handeln, mir erscheint das aber alles zu kalkuliert und auf möglichst niemandem wehtuende Massentauglichkeit getrimmt.

Meine Laune stieg erst wieder bei den Berlinerischen Italienern THE OFFENDERS, die ich ebenfalls bisher jedes Mal verpasst hatte. Offenbar angefangen als Ska-Punk-Band, zockte man in der Fabrik in Quartettgröße englischsprachigen melodischen Streetpunk mit feinen Melodien und immer wieder einer Mandoline anstelle einer Leadgitarre, was der Musik einen unaufdringlichen Folkpunk-Touch verlieh. THE OFFENDERS coverten „I Fought The Law“ und ich war zufrieden. Sollte mich mal mit deren Œuvre in Ruhe auseinandersetzen.

Etwas überrascht war ich, dass sie noch vor den Lokalheroen EMILS aufgetreten waren, die nun ein gut eingestimmtes Publikum vorfanden. Die mittlerweile nicht mehr ganz taufrischen EMILS sind in Sachen deutschsprachigem Hardcore-Punk der End-‘80er-Schule nach wie vor un-fucking-schlagbar, wie sie heute erneut wie auf jedem ihrer Gigs, denen ich seit der Reunion beiwohnte, unter Beweis stellten. Die Band ist perfekt eingespielt, topfit, hungrig und mit spürbarem Bock bei der Sache, Shouter Ille ein Meister der Mimik und Gesten und Aktivposten, der hier trotz Absperrgitter vor der Bühne ständig den Kontakt zu den Fans suchte und zusammen mit den ersten Reihen sang. Wenn ich mich recht entsinne, sprang er auch übers Gitter und unternahm einen Ausflug ins Publikum. Ich liebe diese Band und grölte fast alles begeistert mit. Das Absperrgitter hatte den Vorteil, dass ich mich bequem anlehnen und der Band zuglotzen konnte, während sich hinter mir zunehmend ausgetobt wurde. Aufgrund einer immer noch nicht ganz auskurierten Handverletzung (auf die ich vielleicht doch mal jemanden vom Fach draufschauen lassen sollte…?) hielt ich mich diesbezüglich diesmal zurück, was angesichts von Knallern wie „Viel zu langsam“, „Wer frisst wen?“, „Wir müssen draußen bleiben“, „Kampfsignal“, „Kirche nein“, dem markerschütternden „Krieg und Frieden“ und wie sie alle heißen, nicht leichtfiel. Fest zum Set gehören auch das BUTTOCKS-Cover „Nein nein nein“ und mittlerweile offenbar auch das Medley aus SLIME-Klassikern, das endgültig alle zum Ausrasten brachte. Zwischendurch aber – hört, hört! – gab’s mit „Hopp, hopp“ (keine Ahnung, ob der wirklich so heißt) noch ‘ne brandneue Nummer, die genauso geil wie der Rest klang und Hoffnung auf neues Studiomaterial dieser so bescheidenen Band macht, die nie einen Merchstand aufbaut und kein einziges T-Shirt im Angebot hat, von anderem Klimbim ganz zu schweigen. Den Gitarristen sprach ich darauf nach dem Gig an, denn gerade die „Wer frisst wen?“ und „Es geht uns gut“-Covermotive schreien eigentlich danach, auf T-Shirts gedruckt zu werden, aber den EMILS scheint tatsächlich jeglicher kommerzielle Antrieb zu fehlen. Statt Faulheit vermutlich eine heutzutage selten gewordene Form punkiger Integrität – Chapeau!

Mittlerweile war ich längst dazu übergegangen, meinen Fuffi hauptsächlich am Carlsberg-Stand zu versaufen, war gut angetrunken und euphorisiert – was sich mit dem NORMAHL-Gig potenzierte. Ich hatte so sehr gehofft, dass sich die Band in guter Form präsentieren würde, offenbar völlig unbegründet: Ohne jede Preziose betrat Lars im RAMONES-Shirt die Bühne, an der Klampfe Mick Scheuerle, der seit Anfang der 1990er dabei ist. War das am Viersaiter echt Fast-Urmitglied Manny Rutzen? Sah bischn jung dafür aus…? Hinter der Schießbude jedenfalls der erst 2019 hinzugestoßene Scobo. Es ging unmittelbar mit einem meiner Lieblingssongs, dem dystopischen „Am Tage X“, los, gefolgt von „Komm, erzähl mir über Punk“ und „Weiße Mäuse“. Zwischendurch wunderte sich Lars augenzwinkernd darüber, in Hamburg backstage ausgerechnet Bremer Bier gereicht zu bekommen, woraufhin jemand auf die Bühne lief und ihm offenbar ein süddeutsches Helles überreichte. Ich war sofort wieder im Skandier- und Mitsingmodus und fand mich kurze Zeit später dann doch mitten im Tanzmob vor der Bühne wieder. „Keine Überdosis Deutschland“ erklang, während ich an meiner Bierüberdosis arbeitete. „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader wurde gecovert, ich konnte etwas durchatmen. „Schlägerpolizist“, „Aufrecht“, „Deutsche Waffen“, „Trümmertango“ und „Geh wie ein Tiger“ – wat war das geil, ich war wieder 17. Den „Biervampir“ musste man über sich ergehen lassen, auch wegen seines seltsam gedrosselt wirkenden Tempos eher ein Fremdkörper im hitgespickten Set. Dann schon lieber „Wein, Weiber und Gesang“, „Fahneneid“ und natürlich „Fraggles“, gerne auch die („Sag doch bitte, bitte, bitte, bitte…“) „Drecksau“. DAILY TERROR zollte man mit einem gelungenen „Kleine Biere“-Cover auf sehr sympathische Weise Tribut. Meine Biere waren eher so mittel, in labbrigen Einwegpappbechern umso schneller leer, wenn sie im Pogomob zerquetscht wurden, nicht minder schnell leer, wenn ich sie mir wegen der großen Öffnung und eben jener Quetschgefahr umso rascher hinter die Schrankwand nagelte. Wie immer bedankten sich NORMAHL überaus freundlich mit „Danke“ („…für euer gutes Geld für dieses Scheißkonzert“) beim Publikum. Ob’s dann noch ‘ne Zugabe gab oder das schon das Ende eines etwaigen Zugabenblocks war, weiß ich nun nicht mehr. Was ich weiß: Das war ein arschgeiler Gig, den ich in dieser Qualität nicht erwartet hatte, der fast durchgängig Riesenspaß gemacht hat und dank dem ich nun endlich, während vermutlich fast alle anderen denken: „Wat willer, ‘n NORMAHL-Gig halt, spielen doch ständig irgendwo immer die gleichen ollen Kamellen“, einen fetten Haken auch an diese Band meiner Jugend machen kann.

Der Rest des Festivals war nun eigentlich vollkommen wumpe – wenngleich ich wusste, dass die Kirsche auf der Sahnehaube folgen sollte: Jede Menge Bernauer Bierchansons vom neuen Headliner OXO 86, der so leichtes Spiel wie selten gehabt haben dürfte, traf er doch auf eine fertig betrunkene und feierwütige Meute, die er nur noch mitzunehmen brauchten. Sänger, Rampensau und Entertainer Willi stieg sofort aufs Absperrgitter und hängte sich ins Publikum, um seiner heiseren Ostberliner Schnauze Unterstützung angedeihen zu lassen und sämtliche Grenzen zum Pöbel einzureißen. Oi!-, Street- und Ska-Punk, Punk-, Skinhead- und partykompatibel, mal mit, mal ohne Trompete, aber immer mit jeder Menge Spaß inne Backen, Selbstironie und Witz in den proletarischen Texten. Ich zollte meiner mittlerweile ausgeprägten Breitseite Tribut und begab mich nach kurzer Zeit des Herumgeschubstwerdens an den Rand des Geschehens, schüttete rein, was noch ging, haute die letzten Penunsen auf den Kopp und erfreute mich sowohl an der Band als auch an daran, wie sich andere an ihr in einer angenehm vollen, aber nicht überfüllten Fabrik erfreuten. Zwischendrin unternahm Willi Crowdsurfing auf einem echten Surfbrett, an mehr kann ich mich dann aber auch echt nicht mehr erinnern – außer dass OXO 86 sich den Headliner-Status für solche und andere Veranstaltungen in all den Jahren redlich erkämpft und verdient haben. Teile meiner Fotos illustrieren sehr gut meinen Zustand und meine Sicht zum Zeitpunkt ihres Entstehens.

Pleite, völlig durch, aber glücklich trat ich den Rückweg von diesem – vom Opener abgesehen – hochkarätigen „Deutsch- meets Streetpunk“-Festival an, das mir u.a. einmal mehr vor Augen führte, wie recht …BUT ALIVE seinerzeit hatten: Irgendwas bleibt immer 17…

Guido Sieber – Aus lauter Liebe

Der Berliner Illustrator, Comiczeichner und Maler Guido Sieber debütierte mit seinem ersten Comicalbum „Aus lauter Liebe“ innerhalb der Thurner „Edition Kunst der Comics“, wo es im Jahre 1991 als großformatiger, rund 60-seitiger Hardcover-Band erschien.

Obschon Sieber seine Figuren als Karikaturen zeichnet, verbietet sich im Prinzip die Genrebezeichnung Funny. In seinen von einzelnen Parodien und Persiflagen, vor allem auf Werbung und populäre Comicfiguren, flankierten, anarcho-misanthropischen Kurzgeschichten setzt er durch die Überbetonung äußerlicher wie innerlicher menschlicher Makel stark auf den Ekeleffekt. Seine Figuren sehen allesamt wie unförmige Zombies aus, sind stumpfsinnig und roh, triebgesteuert und verkommen. Ihre Zwischenmenschlichkeit ist verloren und egoistisch, ihre Sexualität pervers und abtörnend. Positiv konnotierte Begriffe wie Geselligkeit oder Liebe führt Sieber in seinen Zeichnungen ad absurdum, Moral und Selbstlosigkeit sind genauso abwesend wie klassische Heldinnen oder Helden. Diese wären zwischen all den Ausscheidungen und verwarzten Geschlechtsorganen auch fehl am Platze.

Selbstironisch rechtfertigt sich Sieber, der sich, um anonym zu bleiben, mit über den Kopf gezogener Papiertüte selbst zeichnet, eingangs dafür, kommt aber zur Konklusion: „[Meine Comics] sind nicht häßlicher oder perverser als das Leben selbst!“ Die Panel-Grids folgen nur selten festen Strukturen, scheinen sich vielmehr in einem übergeordneten Chaos ihren Platz zu suchen. Die Handletterung erfolgt in große Versalien, auf Seitenzahlen wurde verzichtet. Dafür sind die Seiten sehr farbenfroh gestaltet, fassen sich auf ihrem matten Qualitätspapier gut an und riechen auch nach 30 Jahren noch gut.

„Aus lauter Liebe“ ist eine fiese Kombination in die Magengrube, ohne auf Melodramatik oder Betroffenheit zu setzen. Vielmehr regieren zu Papier gebrachte Abscheu vor der Gesellschaft, schwarzer Humor und eine nicht ungefähre Aggressivität, mit der sich Sieber zu wehren scheint, sodass sein Comic wie das Ventil eines letztlich an der Realität verzweifelnden, sensiblen Künstlers mit zu guter Beobachtungsgabe wirkt.

Bevor er sich hauptsächlich der Malerei verschrieb, erschienen in den 1990ern offenbar sieben Comicbände Siebers. Selbstredend müssen die nach und nach alle her – so abstoßend sie auch sein mögen.

24.11.2022, Kulturpalast, Hamburg: VIO-LENCE + XENTRIX + WHIPLASH + ARTILLERY

Dieses warum auch immer als „MTV Headbangers Ball“-Tour angekündigte Thrash-Paket war offenbar bereits seit ca. zwei Jahren angekündigt, musste aber pandemiebedingt verschoben werden. Trotzdem hatte ich erst relativ kurzfristig überhaupt davon Wind bekommen und nicht zuletzt, da ich donnerstags eigentlich mit meiner eigenen Trümmercombo probe, stellte mich der Termin vor Probleme. Andererseits hätte ich vor noch nicht allzu langer Zeit nie geglaubt, mal die Gelegenheit zu bekommen, Bands wie WHIPLASH oder VIO-LENCE livesehen zu können. Headliner VIO-LENCE schaffen es mit dieser Tour erstmals überhaupt nach Europa, die Briten XENTRIX seien seit 1992 nicht mehr auf dem europäischen Festland gewesen, WHIPLASH aus New York seit 1996 nicht mehr, wie ich im Deaf-Forever-Forum las. Kurzentschlossen fuhr ich an jenem Tage also direkt aus dem Büro nach Billstedt und verfolgte eine Ein-Bier-pro-Band-plus-Pre-und-Aftershow-Pils-Strategie, die sicherstellte, dass ich’s Freitag auch wieder rechtzeitig und unzerschossen zum Brötchengeber schaffen würde.

Ein Schnäppchen war’s mit 40 Flocken Eintritt nun nicht gerade, aber auch kein überteuerter Wucher. Noch mal 25 Taler für’n cooles Shirt – beispielsweise das mit dem göttlichen Motiv des ersten WHIPLASH-Albums – sind dann aber auch bei mir heutzutage nicht mehr drin, sorry. Dafür hält man im Kulturpalast die Getränkepreise angenehm zivil, segelte ansonsten aber an diesem Donnerstagabend auf halbmast: Die Garderobe war gar nicht und lediglich ein einziger Bierstand besetzt worden. Dabei war der Besucher(innen)andrang beachtlich und die Bude zwar nicht ausverkauft, aber sehr ordentlich gefüllt. ARTILLERY machten den Anfang. Obwohl ich eigentlich eine gewisse Affinität zu Dänen-Metal habe und mir die Band sympathisch ist, bin ich nie so richtig mit ihrem Stil warm geworden. Michael Stützer & Co. spielen heutzutage melodischen Thrash mit Power-Metal-Gesang, womit ich mich auch bei anderen Bands schwertue. Gerade im Gesangsbereich wies man diese Tendenz schon immer auf, was mir den Zugang erschwerte. Als Opener hatten ARTILLERY auch gar nicht allzu viel Spielzeit, gezockt wurden wohl lediglich sieben Stücke. Die meisten stammten von den Klassikeralben und, klar, „Khomaniac“ beispielsweise gefällt auch mir, war aber zunächst recht schwer erkennbar, weil vor der Bühne Schlagzeug und Bass dominierten und beide Gitarren im Mix eher untergingen. Im letzten Drittel ließ mich „Terror Squad“ hellhörig werden, ein weiterer Bandklassiker, der hier ganz gut rüberkam. Vermisst habe ich tatsächlich „Time Has Come“, den Eröffnungssong des Debüts, denn der läuft mir ebenfalls sehr gut rein. Klar sind ARTILLERY im Jahre 2022 allein schon durch die ganzen Besetzungswechsel eine ganz andere Band als in den ‘80ern, aber mit der ungestümen Energie des „Terror Squad“-Albums hätte ich sicherlich mehr mit diesem Gig anfangen können.

Siedend heiß fiel mir ein, dass ich noch gar kein Abendessen hatte, also ging’s schnell noch mal zum Bahnhof. Mit Börek ausgestattet eilte ich zurück, denn WHIPLASH, deren ‘80er-Œuvre mehr meine Kragenweite ist, wollte ich keinesfalls verpassen. Die ersten beiden Nummern, „Last Man Alive“ und „Killing on Monroe Street“, bekam ich leider nur in der Schlange am Bierstand außerhalb des Saals mit, eilte dann aber flugs nach vorn. Mit „The Burning of Atlanta“ zockte das Trio einen meiner Lieblingssongs, doch leider war der Sound noch schwächer als zuvor bei ARTILLERY:  Die Drums ballerten alles weg, vom Bass war nur Geknarze zu vernehmen und von Tony Portaros Gitarre anscheinend nur das, was vom Bühnensound gerade noch so an die Publikumsohren gelangte. Ich begab mich nach hinten, wo der Sound etwas besser, die Saitenfraktion aber noch immer zu leise war. Eigentlich hatte ich’s mir abgewöhnt, auf Konzerten die Mischer vollzulabern, als ich an den Reglern aber einen Bekannten entdeckte, klage ich mein Ohrenleid. Glücklicherweise bekam man im weiteren Verlauf des Gigs den Sound in den Griff, sodass zumindest hinten auf Mischpulthöhe alles ok war und ich Stoff wie „Walk The Plank“, „Stage Dive“ (wenn auch ohne Stagediving), „Spit on Your Grave“ und „Power Thrashing Death“ genießen konnte. Die Songauswahl fiel also angenehm „Power & Pain“-lastig aus, jenes Debüt hatte einfach den geilsten, punkig-dreckigen Thrash-Sound. Tonys Stimme klingt noch genauso giftig wie zu jenen Tagen und auch die aktuell rekrutierte Rhythmussektion hat das richtige Gefühl für diese Musik. Als Vertretung für den verhinderten nominellen Bassisten Dank DeLong fungiert mit Will Winton von THANATOIC DESIRE ein echter Aktivposten auf der Bühne; Drummer auf dieser Tour ist Charlie Zeleny, ein wahres Tier hinter der Schießbude, der zwischendurch auch mit einem kurzen, aber dafür umso heftigeren Drumsolo verblüffte. Stilistische Verirrungen der 1990er blieben glücklicherweise außen vor, erst der ‘98er-Langdreher „Thrashback“ hielt wieder für Livematerial her. Tony griff sich übrigens zwischendurch seine Kamera und filmte die ersten Publikumsreihen, um das Video später auf Facebook zu veröffentlichen. Musikalisch war dieser WHIPLASH-Gig eine Offenbarung für mich und ich war total glücklich, diese Band endlich einmal live gesehen zu haben.

Von XENTRIX habe ich lediglich das Zweitwerk „For Whose Advantage“ in der Sammlung, das mir aber ausgesprochen gut gefällt und mich an eine Mischung aus SACRED REICH zu „The American Way“- und METALLICA zu „…and Justice for All“-Zeiten erinnert. Auch XENTRIX hatten in den 1990ern einen Stilwechsel hin zu bekacktem Groove-Metal vollzogen, bevor sie sich vorerst aufgelöst hatten. 2019 folgte mit dem neuen Studioalbum „Bury The Pain“ eine Rückbesinnung zum Thrash mit neuem Rhythmusgitarristen/Sänger Jay Walsh. Wenige Tage vor diesem Gig erschien mit „Seven Words“ gar ein brandneues Album – doch weder von diesem noch von „Bury The Pain“ bekam man etwas zu hören, da Originalsänger und -gitarrist Chris Astley für Walsh einsprang, der lieber bei seiner Familie bleiben wollte, da seine Frau das zweite Kind erwartete. Somit gab’s lediglich Material der ersten beiden Alben zu hören, wobei diese sich in der Setlist die Waage gehalten haben dürften. Der technische Thrash mit seinen mitunter etwas komplexeren Strukturen klang vom ersten Song an großartig, die Soundprobleme gehörten endgültig der Vergangenheit an. Nach dem dritten Song ertönte Kriegssound aus der Konserve als Intro, bevor Chris mit seinem kräftigen, kehligen Organ und den an James Hetfield erinnernden Phrasierungen weiter sichtlich spielfreudig durch den Gig führte und die Zeit auf der Bühne offenbar sehr genoss. Ich nutzte das Konzert für die Stimulation meiner Nackenmuskulatur und war schwer beeindruckt von der puren Energie, die XENTRIX auf die Bühne brachten und vor allem die Songs des Debüts in weit besserem Lichte erstrahlen bzw. Sound erklingen ließen. Höhepunkte: „Balance of Power“, „Kept in the Dark“ und „No Compromise“! Ich bin aber auch aufs neue Album gespannt, in das ich noch nicht reingehört habe.

Im Prinzip war ich bereits vollends befriedigt, doch der Headliner kam ja erst noch: Die wiedervereinten Amis VIO-LENCE, deren Debüt „Eternal Nightmare“ ein echtes Kultalbum ist. Die drei Alben aus den ‘80ern und ‘90ern spielte noch Robb Flynn mit der Band ein, bevor er MACHINE HEAD gründete und damit ungleich erfolgreicher wurde. Insbesondere „Eternal Nightmare“ ist eine vom Wahnsinn geprägte Geschwindigkeitsorgie und so avancierte auch der Gig zum erwarteten hektischen Gehacke. Das Debüt dürfte nahezu komplett gespielt worden sein, ergänzt um einige Songs vom etwas zugänglicheren Zweitgeborenen „Oppressing the Masses“ und der diesjährigen Comeback-EP „Let the World Burn“. Die Fans reagierten mit fast permanenten Circle Pits, gerieten lediglich gegen Setmitte etwas außer Puste. Der mittlerweile glatzköpfige Sänger Sean Killing war ganz in seinem Element und pflegte im zugeknöpften, aufnäherbewehrten Kragenhemd (das er auf jedem Foto trägt – wie viele hat er davon?!) seine diabolische Aura. VIO-LENCE ist kontrollierter Abriss mit sich manchmal vielleicht etwas sehr ähnelnden Songs, dafür aber herrlich kompromisslosem, konsequentem Stil und viel good, friendly, violent fun. Das von Killing offenbar erwartete kollektive Durchdrehen des Publikums zum letzten Song „World in a World“ blieb jedoch aus, dafür war es dann doch schon zu erschöpft. Wer seine Riffs gern in einem Affenzahn frisch aufgeschnitten serviert bekommt und sich in eine Art Rauschzustand thrashen lassen möchte, ist bei VIO-LENCE richtig.

Mit der Rückfahrt klappte dann alles wie am Schnürchen. Es war eine verdammt gute Entscheidung, dieses Konzert zu besuchen.

Nachtrag/Korrektur: Es handelte sich anscheinend um die erste europäische Whiplash-Tour seit 1996. Seither waren sie aber für mindestens einen Festivalgig in deutschen Landen.

Frank Schäfer – Metal Störies

Wer diese Rubrik hier mehr oder weniger regelmäßig verfolgt, wird wissen, dass ich viel von Frank Schäfer lese, jenem Braunschweiger Dr. phil., der regelmäßig Bücher über seine Hardrock- und Metal-Leidenschaft veröffentlicht, für Musikmagazine schreibt und zudem ein ausgewiesener Literaturexperte ist, der auch gern autobiographische Romane verfasst und einst bei Salem’s Law Gitarre spielte. Der Ursprung meines Interesses liegt in seinen „Metal Störies“ begründet, die im Jahre 2013 im Berliner Metrolit-Verlag erschienen. Ich war seinerzeit über eine Kurzkritik im Rock Hard gestolpert, hatte mir das rund 150 Seiten umfassende Buch im festen Einband schenken lassen und war nach der Lektüre derart angetan, dass ich mir zahlreiche seiner vorausgegangenen Werke zu Gemüte führte. Chronologisch bin ich jetzt quasi wieder im Jahre 2013 angelangt. Da ich seinerzeit noch kein Lesetagebuch führte, las ich die „Metal Störies“ einfach noch mal, um nun endlich auch zu ihnen etwas schreiben zu können.

Schäfer verknüpft hier in 24 Kapiteln plus „Bonustrack“ Anekdoten aus seiner Jugend in der niedersächsischen Provinz mit, nun ja, Hardrock und Heavy Metal eben, und das in sehr eloquenter, zugleich sympathisch geschriebener Form, für die er viel mehr mit dem Herzen denn verkopft analytisch bei der Sache ist. Gut, mittlerweile weiß ich, dass das zweite Kapitel über seinen Besuch des „Monsters of Rock“-Festivals bereits 13 Jahre zuvor im von ihm herausgegebenen „The Boys Are Back In Town. Mein erstes Rockkonzert“ abgedruckt worden war – dass er inmitten des Iron-Maiden-Sets einfach abhaute, ist indes nach wie vor unfassbar. Weiter geht’s mit seiner eigenen Band und deren Auftritt auf dem Helmstedter Festival zu unmöglichen Bedingungen: Pay to play für 2.000 Kracher! Neben Kritik am Verhalten der Kollegen von Sinner erhält man hier aufschlussreiche Blicke hinter die Kulissen, nicht nur des Festivals, sondern auch der Tele5-Ausstrahlug von Teilen des Festivals. Das zu lesen, diese Zeitreise in die Metal-Parallelwelt der 1980er in der deutschen Provinz, kombiniert mit dem frühen deutschen Privatfernsehen, ist purer Genuss, immerhin war Tele5 mein damaliger Leib-und-Magen-Sender: Als musikbegeisterter Grundschüler und Metal-Fan ohne Kabelanschluss erlebte ich dort nicht nur die Abenteuer der Masters of the Universe und zahlreicher weiterer Zeichentrick-Heldinnen und -Helden, Tele5 wurde auch zu einer Art MTV-Ersatz: Man teilte sich den Sendeplatz mit RTL plus und zeigte nicht nur unzählige Musikvideos, sondern hatte mit „Hard’n’Heavy“ auch eine eigene Metal-Sendung im Programm, die ich ebenso fasziniert wie begeistert verfolgte und dadurch auf etliche Bands stieß, die ich bis heute höre. Der trashige Charme der Moderationen Annette Hopfenmüllers, vor allem aber der häufig ohne Budget hastig von Tele5 selbst gedrehten Videoclips (welche kleinere Metal-Band hatte damals schon eigene, professionelle Clips im Gepäck?) erschloss sich mir erst später, was es aber irgendwie noch schöner machte.

Weiter erinnert sich Schäfer zurück an den Erwerb seiner erste Hifi-Anlage und E-Gitarre, daran, wie er in der Musiksammlung seines großen Bruders stöberte und schließlich Thin Lizzy entdeckte, die er sich erst „erarbeiten“ musste (zuvor, so meine ich mich zu erinnern, bereits in Schäfers 2010 erschienener Essay-Sammlung „Alte Autos und Rock’n’Roll“ veröffentlicht). „An einem dieser Nachmittage wurde mir euphorisch bewusst, dass ich nie wieder Langeweile haben würde“, heißt es da, was die persönliche Gemütslage nach dem Aufstoßen eines Tors in eine ganz eigene, faszinierende musikalische und subkulturelle Welt schön zusammenfasst. Und da ich ohnehin schon zitiere, gleich noch ein Beispiel für Schäfers Wortgewandtheit, sein Talent, Leidenschaft in Worte zu fassen:

„Eine Platte existierte in unserem Hörerkreis exakt einmal. Und wir behandelten sie wie einen Heilsspender, wie ein Palliativ. […] Wir wiesen diesem einen Album einen bestimmten Platz zu in unserem Leben, und dort lud es sich mit Bedeutung auf. Stimmungen, Erinnerungen, Affekte gingen eine haltbare Verbindung mit ihm ein, blieben jederzeit abrufbar. Und wir gaben dem tausendfach vervielfältigten Kunstwerk seine Einmaligkeit zurück.“

Wunderbar auf den Punkt gebracht ist die Polemik gegen Akustik-Sets von Metal-Songs, die Danksagung an Schäfers Vater ist rührend und der Bericht vom Besuch des Ozzfests als Journalist, der anschließend ein Type-0-Negative-Interview durchführen durfte, humorgespickt und launig. Das sind auch die angenehm vielen Geschichten über Salem’s Law, stets selbstironisch als „ihrer Zeit um Jahrzehnte vorauseilende Prog-Metal-Band“ bezeichnet. Eine Hommage an die dänische Band D.A.D. verbindet Schäfer mit klugen Worten zur damaligen Aufsplitterung des Hardrock- und Metal-Bereichs in zahlreiche, sich mitunter spinnefeind gegenüberstehende Subgenres und zur Tonträger-Veröffentlichungsflut, die bis heute nie geahnte Ausmaße angenommen hat. Leider ist dieses Kapitel auch mit der Auflösung seiner Band verbunden.

Der Autor schreibt über einen Hellacopters-Gig, dem er im Hamburger Molotow (nicht Molotov, Herr Schäver!) beiwohnte, um kurz darauf zu sehr Persönlichem zurückzufinden, indem er eine Braunschweiger Beziehungskiste mit der Fahrt zum Thin-Lizzy-Reunion-Konzert kombiniert. In diesem Kontext nimmt er erneut kleinteilige Liebeserklärungen an die Band vor – wunderschön melancholisch erzählt. Ein Kumpel crowdsurft bei Rose Tattoo, auf Wacken wird im Regen gegrillt und Rage werden gefeiert, jeweils garniert mit Schmunzelanekdoten. Und nachdem ich ja nun zum zweiten Mal die Abhandlung über Van Halen gelesen habe, die Schäfer mit einer Rezension des David-Lee-Roth-Comeback-Albums verbindet, muss ich mir das – Memo an mich – wohl auch endlich einmal anhören. Wenn ich schon mal dabei bin, sollte ich mir offenbar auch die Van-Halen/Lee-Roth-Reunion bei MTV 1996 angucken…

Das Gedächtnisprotokoll einer Lesung in Thüringen ist herrlich ironisch-süffisant, die Abi-Fetengeschichte hat aber nun wiederum so gut wie gar nichts mit Metal oder Artverwandtem zu tun (es sei denn, man zählt saufen dazu). Sei’s drum, denn Schäfer schließt versöhnlich mit ehrlicher Freude über die Wiederentdeckung seiner Band unter Metal-Archäologen und übt, last but not least, im Bonuskapitel gerechtfertigte Wacken-Kritik.

„Metal Störies“ vereint in seinen prosaischen Anekdoten persönliche Erinnerungen zwischen Witz und Melancholie, Bandbiographie(n), Konzertberichte, Kommentare und Hintergründe zur Pop- und Rockkultur sowie Plattenkritiken auf scheinbar leichtfüßige Weise und liest sich dank Schäfers Hingabe derart geschmeidig, dass man – einen entsprechenden Bezug zur genannten Themenwelt vorausgesetzt – schnell mehr will. Im Bereich „Sachbuch Musik“ (was viel zu spröde klingt und diesem Buch nicht gerecht wird) war „Metal Störies“ vielleicht Schäfers bis dahin rundestes Stück Literatur, das in mir einen dankbaren und inspirierten Abnehmer fand. Sobald es Zeit und Prioritäten erlauben, greife ich mir das nächste.

04.11.2022, Hamburg, Lobusch: CRASS DEFECTED CHARACTER + HARBOUR REBELS

Kürzlich hatte ja ein Soli-Konzertabend für die Lobusch im Goldenen Salon stattgefunden, in dessen Rahmen ausschließlich Bands auf der Bühne standen, die ihren Proberaum in der Lobusch haben. Nun folgte sozusagen der kleine Bruder dieser Veranstaltung kurzerhand in der Lobusch selbst, denn auch CRASS DEFECTED CHARACTER und die HARBOUR REBELS proben im Lobuschkeller, teilen sich sogar den Drummer – und an diesem Abend auch Gitarrist Janosch, der den in Musikerrente gegangenen Benny bei HARBOUR REBELS vertrat. Zukünftig möchte man jedoch lediglich zu viert weitermachen, also wie zu Beginn der Band ohne zweiten Gitarristen.

Als Besucher(in) konnte man sich den Eintrittspreis zwischen 5,- und 7,- EUR selbst aussuchen; der bei unserem Erscheinen noch eher übersichtlich gefüllte Konzert- und Kneipenraum wurde rasch voller und bot eine ansehnliche Kulisse, als das Hardcore-Punk-Trio CDC sein Set eröffnete. Gespielt wurden die Hits des einzigen Albums und des Demos, darunter sowohl schnelle Pogokracher als auch melodischeres Midtempo-Material, das zum Mitsingen einlädt. Das ergibt eine schön dynamische Mischung, deren Höhepunkte für mich die nachdenklichen Stücke „Wollt ihr?“, „Wenn die Fahnen wieder wehen“ und das als Zugabe gespielte „An der Zeit“ sind. Rotzig-trotziges wie „Eine Handvoll Fick Dich“, das selbstreferenzielle „CDC“, mit dem der Abend eröffnet wurde, oder auch der alte Live-Favorit „Protest durch Sachschaden“ laufen aber genauso gut rein wie das gekühlte Jever vom Tresen. Ich glaube, ungefähr zur Hälfte des Gigs hatte sich ein – interessanterweise vornehmlich weiblicher – Tanzpit vor der Bühne gebildet und feierte die mal mit dreckigerer, heiserer Stimme von Bassist Manu und mal etwas melodischer und klarer von Gitarrist Janosch gesungenen Songs kräftig ab. Drummer Chris prügelte sich präzise mit Pokerface durch ganze Potpourri und Manu behielt wie immer auch im abgedunkelten Saal seine Sonnenbrille auf. Schön, CDC mal wieder gesehen zu haben, war ja nun doch schon wieder bischn länger her.

Bei Weitem nicht so lang war’s her, dass ich zuletzt den HARBOUR REBELS live beigewohnt hatte. Diesmal also mit Janosch an der zweiten Klampfe, der sichtlich Bock hatte und sich – zumindest für meine tauben Ohren – keinerlei Blöße gab. Generell war die Stimmung auf und vor der Bühne bestens. Jule ist die perfekte Frontfrau für eine solche Band und führte mit gewohnt launigen Ansagen durchs Set, während, wenn mich nicht alles täuscht, vom ersten Song an vor der Bühne getanzt wurde. Diesmal ließ auch ich mich nicht lange bitten und gesellte mich dazu. Mittlerweile war ich betrunken genug, um mich im Nachhinein nicht mehr zu Setlist-Details äußern zu können, aber so weit ich mich erinnere wurden die bekannten deutsch- und englischsprachigen Hits um neue englische Songs vom noch unveröffentlichten zweiten Album erweitert, wofür die eine oder andere Coverversion aus dem Liveset weichen musste. Das klang alles sehr vielversprechend, man darf also erwartungsvoll gespannt sein. Melodischer Oi!-Punk mit Singalongs, einer kräftigen weiblichen Stimme, unverkrampfter, aber unmissverständlicher Haltung, einem hohen Unterhaltungsfaktor und Ambitionen für mehr, was sie zumindest schon mal bis aufs Billing des Rebellion-Festivals 2023 in Blackpool gebracht hat. Glückwunsch, weiter so und, an alle Verantwortlichen und Beteiligten: Danke für die geile Lobusch-Party, nach deren Bühnenprogramm man gar nicht mal so schnell nach Hause wollte und sich vor Ort noch amtlich die Festplatten defragmentierte…

Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 9: 1967 – 1968

Weiter geht’s mit den Jahren 1967 und 1968 im neunten Band der Peanuts-Werkausgabe des Hamburger Carlsen-Verlags: Auf rund 330 gebundenen Seiten werden alle jeweils vier Panels umfassenden Zeitungsstrips und großformatigen Sonntagsseiten jenes Zeitraums aus der Feder Charles M. Schulz‘ in chronologischer Reihenfolge unkoloriert in deutscher Übersetzung präsentiert. Für das Vorwort gewann man diesmal den provokativen US-amerikanischen Regisseur John Waters, der seine Liebe zu Lucy gesteht und seine Begründungen dafür mit genauestens Panel-Angaben als Quellen belegt. Auf ähnliche Weise lobt er Schulz‘ Zeichenstil, bringt eine Reihe von Strips mit damals zeitgenössischen Themen in Verbindung und, für Cineastinnen und Cineasten besonders interessant: zählt auf, welche Einflüsse welche Peanuts-Figuren oder -Topoi auf seine Filme hatten. Nicht minder aufschlussreich ist wie üblich das Glossar, das aus heutiger mitteleuropäischer Sicht erklärungsbedürftige Strips erläutert und auf möglicherweise sinnverändernde deutsche Übersetzungen hinweist. Gary Groths bekanntes Nachwort und der Stichwortindex runden auch diesen Band ab.

Los geht’s mit Snoopy in seiner Paraderolle als Flieger-Ass auf der Jagd nach dem Roten Baron, eine Rolle, in die er in diesen zwei Jahren so oft wie nie zuvor schlüpfen wird. Kurioser- und beschämenderweise erscheint Linus‘ Angst vor der Masernimpfung vom 2. bis 7. Januar 1967 aktueller denn je. Am Valentinstag sind die zahlreichen Karten, die Snoopy erhält, auch ein Indiz für die überbordende Beliebtheit speziell dieser Peanuts-Figur. Der Running Gag um Charlie Browns Unfähigkeit, einen Papierdrachen in der Luft zu halten, wird um den „drachenfressenden Baum“ erweitert, wofür am 2. März 1967 sogar das Vier-Panel-Prinzip aufgebrochen wird. Mit José Peterson wird am 20. März ’67 eine neue Figur eingeführt, der jedoch keine allzu lange Existenz im Ensemble vergönnt sein sollte. Snoopy erfreut sich weiterhin an den Imitationen anderer Tiere und mimt im März ’67 gar einen Piranha, seine bevorzugte Inspiration bleiben aber Geier. Ein Woodstock verdammt ähnlich sehender, aber noch namenloser Vogel landet Anfang April auf Snoopys Hütte. Eine „Alice im Wunderland“-Hommage, genauer: an die Grinsekatze findet sich am 18. April ’67, wenn Linus die Geschichte liest und Snoopy in die Katzenrolle schlüpft.

Eben jener Beagle verliebt sich am 5. Juni ’67 in Twiggy, jenes reale, damals angesagte Fotomodell, und Charlie Brown bekommt wieder Frühlingsgefühle wegen des, na klar, kleinen rothaarigen Mädchens – im Gegensatz zu Snoopys kurzer Schwärmerei ein nahezu traumatischer Dauerzustand Charlies. Im Ferienlager treffen Charlie und Snoopy wieder auf Peppermint Patty, die zwei Jahre zuvor eingeführt worden war. Doch auch dort sind zu Charlies Verdruss Leistungsdruck, Hohn und Spott an der Tagesordnung. Ganz wie beim Baseball also, bei dem Charlie weiterhin an seiner Mannschaft verzweifelt. Weitere wiederkehrende Späße sind der obligatorische Football-Tritt Charlies, der große Kürbis, auf den Linus jedes Halloween vergeblich wartet, und natürlich Lucys Psychoberatungen und ihre einseitige Liebe zu Schroeder, der übrigens 1967 glatt Beethovens Geburtstag vergisst! Am 12. Juli 1967 greift Schulz erstmals das Hippie-Phänomen auf, jedoch ohne es zu vertiefen. Snoopy tanzt ab Herbst ’67 mit Vorliebe und trainiert im Winter Eiskunstlauf für die Olympiade in Grenoble. Im November tauscht Charlie seinen Hund doch tatsächlich bei Peppermint Patty gegen fünf gute Baseballspieler ein, eine sich über mehrere Strips ziehende Handlung, die leider schon am 20. November ’67 endet – daraus hätte man weitaus mehr machen können.

Wie eine Art Retourkutsche dafür, löst Snoopy im Frühjahr 1968 Charlie kurzzeitig als Kapitän des Baseball-Teams ab. Linus sorgt sich, dass seine Lieblingslehrerin Fräulein Othmar ihn nicht mehr mögen könnte, während Snoopy die Sportart wechselt: Statt Eiskunstlauf trainiert er nun für die Weltmeisterschaft im Armdrücken, die in Petaluma stattfinden soll. Das ist alles unterhaltsam und komisch, andere Ereignisse dieses Jahres sind jedoch von größerer Bedeutung: Am 18. Juni 1968 betritt Peppermint Pattys Freundin Marcie erstmals die Bildfläche, damals leider noch unter anderem Namen. Eine sehr pointierte Figur, die perfekt bestimmte Charaktereigenschaften karikiert und wie zuletzt auch Patty zeigt, wie gut Schulz das Entwerfen spannender, memorabler neuer Figuren inzwischen gelang. Noch bedeutender ist es, dass sich Schulz am 6. Juli erstmals eindeutig politisch positioniert, indem er Snoopy hinter einem an die Ikonografie der Black-Power-Bewegung angelehnten Plakat unterstützend herlaufen lässt. Und wer das noch nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte, durfte sich am 31. Juli 1968 über eine neue Figur namens Franklin freuen respektive ärgern, einen schwarzen Jungen, mit dem sich Charlie Brown anfreundet. Das sorgte in den rassistischen USA für Unruhe, einige Zeitungen verweigerten den Abdruck dieser Comic-Strips.

Am 10. August 1968 wird Snoopys Geburtstag gefeiert und immer mal wieder wird eine Ex-Was-auch-immer Snoopys namens Lila erwähnt, deren Kontakt er fürchtet und sich verbittet wie ein gebrannter Mann. Doch am 24. August besucht er sie im Krankenhaus, sie entpuppt sich als blondes Mädchen. Zu Charlies Entsetzen stellt sich heraus, dass es sich bei Lila um Snoopys Vorbesitzerin handelt! Strips voller Melancholie, aber auch Herzenswärme – wunderbar. Snoopys Vermenschlichung führt unterdessen so weit, dass er im Herbst ’68 sogar die Schule besuchen möchte – keine Hundeschule, wohlgemerkt. Nach Eiskunstlauf und Armdrücken entdeckt er auch das Eishockeyspiel für sich, was jedoch zu erhöhter Aggression führt, unter der andere leiden müssen – obwohl er allein spielt…

Nachdem Schulz in den Jahren 1965/’66 entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung seiner Reihe gestellt hatte, kamen insbesondere 1968 die letzten Puzzlestücke hinzu, die zukünftig viele weitere Jahrzehnte lang das Bild der Peanuts prägen sollte. Das macht diesen neunten Band der bis hierhin geradezu perfekten Werkausgabe zum sich bisher am komplettesten anfühlenden. Charlie Brown ist mit seinen Versagensängsten und den daraus resultierenden tatsächlichen Unzulänglichkeiten und depressiven Verstimmungen weiterhin der neben Snoopy dominanteste Charakter, der jedoch nur Teil eines Mikrokosmos voller zu ausdrucksstarken Charakteren gereiften Figuren ist, die zahlreiche weitere menschliche Emotionen und Facetten abdecken und entscheidend zum unverwechselbaren „Peanuts“-Humor, -Lebensgefühl und -Lesespaß beitragen.

19.10.2022, Fabrik, Hamburg: KIM WILDE

Mit KIM WILDE verbinde ich allem voran natürlich das fantastische, selbstbetitelte Debütalbum aus dem Jahre 1981 mit seinen unverwüstlichen New-Wave-Hits, gefolgt vom sehr angenehmen Pop-Album „Close“, das gerade chartete, als ich mich so richtig für Musik zu interessieren begann. „You Came“ war auf meinem allerersten selbstzusammengestellten Mix-Tape, „Never Trust A Stranger“ auf einem der nächsten. Das zweite Album „Select“ (1982) schlug mit mehreren Songs noch in eine ähnliche Kerbe wie das Debüt, bevor sich die Britin stärker in Richtung Pop orientierte. Nach „Closer“ verlor ich ihre Karriere aus den Augen, die sie Mitte der 1990ern beendete, um Fernsehgärtnerin zu werden. Rund zehn Jahre später gelang ihr mit u.a. mit Hilfe NENAs ein Comeback.

Als ich noch vor Pandemieausbruch verstärkt Lust bekommen, mir den einen oder anderen Pop-/Rock-Act aus meiner Kindheit mal live zu geben und Karten für PET SHOP BOYS und GIANNA NANNINI erworben hatte, war auch KIM WILDEs Gig in der Großen Freiheit darunter. Vom Kartenkauf bis zum tatsächlichen Konzert musste ich dann ca. zweieinhalb Jahre warten, die Gründe sind bekannt. Es sollte eine Greatest-Hits-Tour zum 40-jährigen Bühnenjubiläum werden – gut, dann eben zum 42. Das Konzert wurde in die Fabrik verlegt, was mir sehr entgegenkam. Rappelvoll wurd’s, eine Vorband war nicht eingeplant. Bierchen geholt, zu ‘nem halbwegs akzeptablen Platz im unbestuhlten Saal gedrängelt und nur kurz der Dinge geharrt, die da kommen mochten, denn ziemlich pünktlich betraten erst die Band inklusive Background-Sängerin und Tänzerin Scarlett Wilde (Kims Nichte) und schließlich die mittlerweile 62-jährige Kim die Bühne. Da wurd’s relativ eng, denn hinten, wo normalerweise ein Schlagzeug steht, erhielt der Keyboarder seinen Platz; links und rechts von ihm waren zwei Drumsets aufgebaut, was mir etwas übertrieben erschien – zumal ich das rechte erst relativ spät entdeckte, weil es aufgrund der Fabrik-Architektur weitestgehend unterm Gebälk verschwand. Die Saitenfraktion trat als Trio in Erscheinung: ein Bassist und zwei Gitarristen, einer von ihnen Kims Bruder und Produzent bzw. Scarletts Vater Ricky, der den Popzirkus seit Anbeginn zusammen mit seiner Schwester wuppt. Das in rot und schwarz getauchte Bühnenbild fand seine Entsprechung in Bühnenkleidung und Haarfarben, wobei Kims Dress, eine Art Mischung aus Corsage, Rüschen und Fransen, vielleicht etwas schrill geraten war…

„Rage for Love“ entpuppte sich als gutgewählter Einstieg und „Never Trust a Stranger“ folgte direkt als erster Überhit, bevor „Million Miles Away“ bewies, dass es sich offenbar lohnt, auch mal den ‘90er-Alben eine Chance zu geben – geile, schwofige Nummer! Die weitestgehend analoge Instrumentierung ließ manch Song organischer klingen als auf Platte, Kims Stimme war überraschend perfekt in Schuss und ihre Ausstrahlung fröhlich, positiv, schwer sympathisch. Scarlett sorgte neben Mehrstimmigkeit vieler Refrains für viel Bewegung und zusätzlichen Esprit auf der Bühne. Die Stimmung im Publikum war vom ersten Ton an prächtig, nur leider versperrten immer wieder hochgehaltene Smartphones und Phablets den ohnehin nicht immer ganz einfachen Blick zur Bühne. Aus Respekt vorm im Durchschnitt wohl etwas älteren Publikum wollten wir uns aber auch nicht bis in die erste Reihe durchrüpeln, als befänden wir uns auf einem Punkkonzert. Zumindest konnte ich in den Displays erkennen, dass eine Reihe wirklich guter Fotos zustande gekommen sein muss – was ich von meinen im Gedrängel reichlich unmotiviert geschossenen leider nicht behaupten kann. Daher hier ein Netzfundstück:

Nach dem tollen „Can’t Get Enough (Of Your Love)“ war das BEE-GEES-Cover „If I Can’t Have You“ Teil des ersten Konzertdrittels. Das empfand ich als etwas unspektakulär, war aber sicherlich das Beste, was aus so’ner ollen Nummer, deren Original mir bestimmt die Fußnägel hochrollen würde, herauszuholen ist. Es ging direkt über in „The Touch“ und „The Second Time“ vom „Teases & Dares“-Album und mündete in „Pop Muzik“ von M in einer sehr charmanten Interpretation, in der Kim und Scarlett sonnenbebrillt mit dem Publikum flirteten und synchron tänzelten. „Kandy Krush“ und „Birthday“ bedeuteten einen Abstecher zum rockigeren jüngsten Studioalbum „Here Come The Aliens“, „Water on Glass“ löste Megahit-Alarm aus, „Anyplace, Anywhere, Anytime“ markierte das Comeback: Eine englischsprachige NENA-Coverversion, seinerzeit zusammen mit Frau Kerner gesungen. Kurios: In der ersten Strophe versuchte sich Kim am deutschen Originaltext. „Perfect Girl“ und das wirklich gute „Love is Holy“ bewiesen einmal mehr, dass hier eben nicht nur die 1980er abgefeiert werden sollten, sondern es Kim und ihrer Band vollkommen zurecht daran gelegen war, alle Dekaden und Phasen abzudecken.

Das letzte Drittel des regulären Sets reihte dann jedoch tatsächlich mehrere ‘80er-Nummern aneinander, darunter die sensible, leise Ballade „Four Letter Word“ (ich schmolz dahin, meine Freundin verdrehte nur die Augen…), das politisch wache und hochatmosphärische „Cambodia“, dessen Chor hunderte Kehlen mitsangen, das traurige, nachdenkliche „View From a Bridge“ – und nicht zuletzt mit dem punkigen „Chequered Love“ eines meiner Lieblingsstücke. Zwischendurch hatte Kim ihre Band vorgestellt und auf die Verwandtschaftsverhältnisse aufmerksam gemacht, von ihrer musikalischen Sozialisation und ihrem Bezug zur Popmusik berichtet sowie wissen lassen, dass sie die pittoreske Hamburger Parkanlage „Planten un Blomen“ besucht habe. Ähnliches wird sie überall erzählen, aber es wirkte nicht aufgesagt, sondern von Herzen kommend – wie alles, was sie an diesem Abend auf der Bühne tat.

Das THE-SUPREMES-Cover „You Keep Me Hangin‘ On“ wurde geschickt vor den Zugabeblock platziert, der mit dem selbstreferenziellen „Pop Don’t Stop“ das dritte Stück vom Aliens-Album bot und mit Kims vermutlich größten Hits „You Came“ und „Kids in America“ einen endcoolen Konzertabend beschloss. Für „Kids…“ setzte sich Kim eine glitzernde Fantasie-Uniformmütze auf, was ihr Outfit gewissermaßen abrundete. Die Songauswahl war gut gelungen, die Dramaturgie stimmte, lediglich „Words Fall Down“ habe ich schmerzlich vermisst. Nach 23 Songs und ca. 100 Minuten schienen alle auf ihre Kosten gekommen zu sein, vom Punk mit ‘80er-Pop-Affinität über die feierlaunigen Twens, das ältere Disco-Pärchen und den Mainstream-Event-Hopper bis hin zum Rocker mit Metal-Shirt.

Auf dem Klo traf ich sogar noch – wie schon bei den PET SHOP BOYS – Captain Blitz, der anschließend am Kiosk ‘ne Runde Pils schmiss. Danke, Captain, danke, Kim, danke, Fabrik. Nun bitte mal CYNDI LAUPER nach Hamburg holen! Ich höre mich – Streaming macht’s möglich – so lange durch die mir bisher weniger geläufigen Untiefen der Wilde’schen Diskographie auf der Suche nach Hits, Hits, Hits…

Officine Grafiche Arnoldo Mondadori – Schindel-Schwinger: Kampf um Flohheim – Band 5: Schwindel-Schwinger sprengt die Spielbank

„Schindel-Schwinger: Kampf um Flohheim“ war eine von 1975 bis 1977 im Illu-Press-Verlag in Form rund 50-seitiger großformatiger Softcover-Alben erschienene Comicreihe aus der Feder Peter Schulz‘ und Michael Rybas. Die auf drei Seiten umrissene Rahmenhandlung dieser vollfarbigen Anarcho-Funnys bilden die verzweifelten Versuche Gottes, seine „Proben“, Prototypen von Geschöpfen, die es eigentlich nicht bis zur Schöpfung geschafft haben, wieder einzufangen, nachdem er diesen irren Kreuzungen aus Merkmalen verschiedenster Tiere mit den Attitüden unterschiedlichster Menschen versehentlich Leben eingehaucht und sie entkommen lassen hat. Am Tullamore-Fluss haben sie die Stadt Flohheim gegründet, wo sie aber nicht in Frieden leben können, weil Gott sowohl Petrus als Luzifer auf sie gehetzt hat. Wer sie einfängt und ihm wiederbringt, soll später einmal die Erde beherrschen dürfen.  Doch die Bewohnerinnen und Bewohner Flohheims wissen sich zu wehren.

Der namengebende Schwindel-Schwinger ist eine dieser „Proben“, ein Wesen mit Echsenkörper, Riesenfüßen, Pferdekopf, blonder Mähne und Boxhandschuhen sowie einem großen Ego. Auch andere Flohheimer werden auf einer Doppelseite zum Einstieg vorgestellt. In diesem fünften Band aus dem Jahre 1977, den ich kürzlich auf einem Flohmarkt fand, lässt Petrus Schindel-Schwinger entführen. Im Casino Santa Moneta sollen die anderen Proben um seine Freiheit spielen. Natürlich hat er entsprechende Vorkehrungen getroffen, damit dies nicht erfolgreich für die Proben ausgehen kann. Doch Luzifer will auch mitspielen, Schindel-Schwinger gelingt die Flucht und letztlich werden Petrus‘ und Luzifers Banden kräftig ausgenommen.

Ein Mikrokosmos absonderlicher Figuren mit individuellen Charaktereigenschaften, die sich mit List und Tücke fremder Invasoren erwehren müssen – das erinnert sicherlich nicht von ungefähr an Asterix und die anderen Gallier. Alleinstellungsmerkmal ist hier jedoch der freche, provokante antiklerikale Witz. Einige Seiten wurden mit amüsanten Fußnoten angereichert, auch das erinnert ein wenig an Asterix & Co. Auf Seite 13 finden sich Anspielungen auf die kubanische Revolution und in den Dialogen einige Wortwitze. Der ständig betrunkene Bürgermeister Bimmel-Beule geht als Verballhornung von Politikern durch, während die gesamte Reihe eine Parabel auf ein Leben ohne religiöse Zwänge zu sein scheint.

Und trotzdem wollte der Funke nicht 100%ig auf mich überspringen. Der unglaubliche Grund: Dieser fünfte Band ist eine dreiste Fälschung! Nachdem sich der Verlag offenbar nicht mit den Autoren Schulz und Ryba auf eine kindgerechtere Ausrichtung einigen hatte können, ließ er diesen Band mit ihnen unabgesprochen von einem italienischen Studio zeichnen und veröffentlichte das Resultat unautorisiert. Damit war das Band zwischen den Autoren und dem Verlag natürlich zerschnitten, der auf der Rückseite noch angekündigte sechste Band erschien nicht mehr und die Reihe wurde eingestellt. Zwar kenne ich die vorausgegangenen Bände nicht, doch anhand von Bildern im Netz lässt sich tatsächlich ein Unterschied in der zeichnerischen Qualität ausmachen. Im (natürlich höherwertigen) Original erinnert mich der Zeichenstil ein wenig an die Trickserie „Die Bluffers“.

Ich wollte einen launigen Comic mit Kellergeruch vom Flohmarkt – und erhielt eine unfassbare Kapriole deutscher Verlagsgeschichte…

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