Zu meinen favorisierten zeitgenössischen deutschen Autoren sowohl im Sachbuchbereich als auch in der Belletristik zählt der Braunschweiger Literatur- und Musikexperte Frank Schäfer, ohne dessen im Jahre 2007 im Erftstädter Area-Verlag erschienener, rund 400-seitiger Abhandlung über von der Zensur betroffene Bücher ich nicht mehr auszukommen beschloss und sie mir neben Bud Spencer, Eis am Stiel und diversen Comics als Urlaubslektüre einpackte.
Der hübsch gebundene Schmöker widmet sich 32 verschiedenen Werken quer durch die Literaturgeschichte, enthält eine Handvoll Interviews und wird von einem ausführlichen, sich über zehn Seiten erstreckenden Vorwort Schäfers eingeleitet. Bis auf eine Ausnahme hat er bereits in „Kultbücher – Was man wirklich kennen sollte“ rezensierte Bücher ausgespart und äußert sich zu Herangehensweise und Selbstverständnis wie folgt:
„(…) außerdem keine Aufnahme findet der neonazistische, rassistische, antisemitische Dreck der rechten Subkultur. Wer sich auf so ein Niveau begeben will, möge dies tun – ich nicht.
Die Forschung zum Thema ist umfangreich, wenn nicht inflationär. Warum also die vielen Regalmeter Sekundärliteratur noch um drei Zentimeter verlängern? Nun, zum einen, weil die bisherigen (oft auch nicht mehr lieferbaren) Arbeiten schlicht veraltet sind, folglich auf die neueren Zensurfälle gar nicht mehr eingehen konnten.
Zum anderen weil eigentlich allen die Literatur selbst aus dem Blick gerät. Man zeichnet detailliert die Publikations- und Rezeptionsgeschichte nach, aber an einer literaturkritischen Auseinandersetzung ist eigentlich so recht keiner interessiert.“ (S. 19)
Das älteste Buch dieses Reigens stammt aus dem Jahre 1749 („Die Abenteuer der Fanny Hill“), die beiden jüngsten aus 2003 („Esra“ und „Meere“); dazwischen finden sich Titel wie „Die Abenteuer von Huckleberry Finn“, „Lady Chatterley“, „Mephisto“, „Unsere Siemens-Welt“, „Harte Mädchen weinen nicht“ und „American Psycho“, also ganz unterschiedlicher Popularität und Qualität. Schäfer arbeitet religiös verbrämte oder von fragwürdigem und mangelndem Kunstverständnis bis hin zu von der Kontinuität der Nazi-Ideologie geprägte Urteile auf und erwähnt mehrere Grundsatzurteile, die im Laufe der Jahrzehnte gesprochen wurden. Die verhandelten Bücher fasst er auf den Punkt gebracht zusammen, beschreibt und analysiert nie zu lang oder ausschweifend, aber bei entsprechend bescheinigter Qualität Lust auf die jeweilige Primärqualität machend, von denen er Eindrücke durch ausführliche Zitate vermittelt. In eigenen Beurteilungen und Kritiken schreibt er differenziert, sprachlich herausragend und eine große Leidenschaft fürs Lesen und Schreiben erkennen lassend – wenn auch immer mal wieder in etwas zu gewollt bildungsbürgerlichem Duktus. Und natürlich lässt er es sich auch nicht nehmen, die jeweiligen Urteilsbegründungen süffisant zu kommentieren. Ein großes Plus des Buchs ist es, dass Schäfer Werke und Urteile zeithistorisch einordnet und auch über Zensurversuche berichtet, die mal den Werken vielleicht sogar nützten, häufig aber den Verlagen immensen Schaden zufügten.
Zumindest Teile Schäfers Texts über Timothy Learys „Politik der Ekstase“ kannte ich bereits aus seinem Woodstock-Buch, sein Interview mit Günter Amendt zum Thema LSD im direkten Anschluss hingegen noch nicht. Nicht nur juristisch besonders interessant wird es im Falle „Josefine Mutzenbacher“, wenn sich die Zensoren der Bundesprüfstelle (BPS), der Schäfer „aggressive Ahnungslosigkeit“ attestiert, sogar über das BVerfGE hinwegsetzen, Verlage in dieser Pattsituation aber trotzdem fröhlich veröffentlichen. Der Witz, mit dem Schäfer über Mutzenbacher schreibt, scheint jenem Werk angemessen. Geradezu schildbürgerlich: Von Henry Millers „Opus Pistorum“ wird eine Neuauflage beschlagnahmt, die Originalausgabe aber bleibt unbehelligt. Unfassbar auch die Begründungen auf S. 321, die tief blicken lassen – spricht aus ihnen doch noch der restauratorische Prä-‘68er-Staat zum einen, der paranoide Cancel-Culture-Staat der Zeit der Terror- und Kommunistenparanoia zum anderen. Da schimpft Schäfer dann auch mal wie ein Rohrspatz – zurecht! Einmal verschlägt es dem eigentlich so eloquenten Autor angesichts hanebüchener Urteilsbegründungen auch glatt die Sprache: Man müsse nicht jeden Blödsinn kommentieren. Das Fazit jedenfalls: Die Bundesprüfstelle agiert verfassungsfeindlich.
Die Zensurversuche gegen Comiczeichner Ralf König und andere Comics in den 1990ern hatte ich damals selbst mitbekommen, auch das erfreuliche Kontra der Populär- und Subkultur. Ein skandalöser Fall von Homophobie im Namen des Jugendschutzes durch bayrische Behörden, das Urteil der BPS fiel glücklicherweise zugunsten Königs aus. Kein Fan ist Schäfer von „American Psycho“, um dessen Indizierung die BPS kurioserweise jahrelang und letztlich vergeblich rang, nachdem bereits 70.000 Exemplare abgesetzt worden waren und das Ding anscheinend unabhängig seines jeweiligen rechtlichen Status ein Bestseller über Jahre hinweg geworden war. Bezeichnend ist es, wie sich die BPS regelmäßig über Expertengutachten hinwegsetzt. Häufig geht es um die vermeintliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten und das Abwägen gegen die Kunstfreiheit, so auch im Falle der Autorin Birgit Kempker, die Schäfer ebenfalls interviewte. Zugleich geht es dabei aber auch um den Streisand-Effekt, der sich häufig als Bumerang für die Klagenden erweist.
Interessanterweise findet mit „Esra“ auch ein Fall Berücksichtigung, bei dem eigentlich, so sollte man meinen, das Persönlichkeitsrecht hätte greifen müssen. Schäfer erläutert, warum dem, ungeachtet des seines Erachtens miserablen profilneurotischen Schlüsselromans, nicht so ist bzw. hätte sein sollen. Zudem führte er zu dieser Causa ein Interview mit dem KiWi-Geschäftsführer Helge Malchow. Der letzte Fall, Alban Nikolai Herbsts „Meere“, war bei Drucklegung noch nicht abgeschlossen. Wie er ausging, lässt sich bei Wikipedia & Co. nachlesen.
Viele Prozess- und Urteilsbegründungen offenbaren ein elitäres und dennoch höchstens halbgebildetes Kunstverständnis, das vielleicht die Folge totalitärer deutscher Vergangenheit und ihrer Zensurgeschichte, aber auch einer hochnäsigen Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur ist. Schäfers Buch bietet einen erkenntnisreichen wie unterhaltsamen (also „E“ und „U“ vereinenden) Überblick über deutsche Zensurbemühungen im Literaturbereich und ist ganz sicher nicht nur für, Zitat: „Freunde juristischer Rabulistik“. Lediglich bei seinen Ausführungen zum Fall „Siegfried“ kam ich nicht ganz mit, wenn auf S. 231 von einem Prozess gegen die beiden „Spiegel“-Redakteure die Rede ist. Diese waren es doch (u.a.), die gegen Jörg Schröder geklagt hatten…? Vielleicht hat sich in diesem (mir ansonsten sauber lektoriert erscheinenden) Buch dort lediglich ein falsches Wort eingeschlichen.
Frank, wann kommt eigentlich „Zensierte Musik“?
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