Eine notwendige Kritik

Die „Griffel. Magazin für Literatur und Kritik“-Herausgeber Frank Schäfer und Rüdiger Wartusch taten sich mit Gerald Fricke für das 1997 im Reclam-Leipzig-Verlag veröffentlichte „notwendige Wörterbuch“ „Die Goldenen Siebziger“ zusammen, das eine lose Tradition lexikalischer Bücher lostrat, die der ehemalige Gitarrist der Metal-Band Salem’s Law und spätere Popkultur-Essayist und Romanautor Frank Schäfer zusammen mit wechselnden Koautoren verfasste. Allen gemein ist die humoristische bis satirische Perspektive auf die jeweiligen Inhalte, es handelt sich also gewissermaßen um Mock-Wörterbücher/-Lexika. Der Startschuss dieses Braunschweiger Klüngels war diese Retrospektive auf die Jahre 1970 bis 1979 im Taschenbuchformat, wenngleich das Jahrzehnt streng genommen von 1971 bis 1980 reichte. Rund 160, von neun Schwarzweißbildern aufgelockerte und um eine kurze Einführung, ein Wondratschek-Zitat und ein Vorwort ergänzte Seiten lang wird also jener Zeitraum alphabetisch sortiert vom in eben jener Zeit sozialisierten Trio in seine einzelnen Versatzstücke zerteilt, neu zusammengesetzt und aufgearbeitet. Der bildungsbürgerlich-akademische Hintergrund der drei Autoren kommt dabei ebenso deutlich zur Geltung wie deren tendenziell progressive Haltung, wenn sie versuchen, die Bereiche Politik, Gesellschaft und Pop-/Subkultur sowie – natürlich – Literatur subjektiv, aber in breitem Umfang abzudecken.

Der Umstand, dass sich in den 1970ern Goutierbares und Scheußliches in etwa die Waage hielt, zwang die Autoren zu einer Unterscheidung in „gute Siebziger“ und „schlechte Siebziger“. Da das Buch inmitten der ’70er-Retrowelle der beschissenen Neunziger (mein Titelvorschlag für ein ’90er-Lexikon) erschien, dürfte dieser es sich auf den ersten Blick etwas einfach machende Kniff geholfen haben, ein kritisches Bewusstsein (wieder-)herzustellen, wenngleich man sich eigentlich an ein Publikum richtet, das die ’70er selbst erlebt hat und alles kennt oder zumindest kennen sollte – also an Nostalgiker(innen) und deren Subspezies. Dass nicht jeder Gag sitzt: geschenkt. Zwischen allem Sarkasmus und aller Polemik muss man auch nicht immer – schon gar nicht mit 23 weiteren Jahren Abstand – einer Meinung mit den Verfasserin sein, denn grundsätzlich ist die offensiv vorgetragene Haltung erfreulich, versteht sie es doch, insbesondere politischen und Mainstream-medialen Phänomenen mit den gebotenen hochgezogenen Augenbrauen zu begegnen. Leider ist nicht immer alles allgemeinverständlich, aber a) was ist das schon?, und b) bleibt das die Ausnahme, elitäre Akademikerschreibe weitestgehend gezügelt.

Dennoch: Ohne Vorkenntnisse wird wohl niemand aus dem Eintrag zum NATO-Doppelbeschluss schlau. Und war „Klimbim“ wirklich so schlimm? Beim „Sandmännchen“ jedenfalls liegen sie definitiv falsch: Ich habe beide Varianten gesehen und bin Augenzeuge, dass der DDR-Sandmann seinem Pendant aus dem kapitalistischen Ausland überlegen war (und ist). Schwach auf der Brust sind die Einträge über Paul Breitner und McDonald’s, auch der zu Schlöndorff ist nicht nur aus Filmhistorikersicht ungenügend. Außerdem dürfte es sich um die einzige deutsche ’70er-Rückschau handeln, die die RAF nahezu komplett ausspart. War das bewusst als eine Art Statement gedacht? Unter „Punk“ muss man sich enttäuschenderweise mit einer nichtssagenden Anekdote begnügen. Skandalös falsch ist gar die Definition von „Oi“: Diese Punk-Strömung hat einen eigenen Eintrag bekommen, in der sie rein politisch rechts verortet wird. Hereingefallen, kann man da nur sagen – und anmerken, dass ein wenig Recherche Abhilfe geschaffen hätte.

Positiver fällt der Hang der Autoren zur Literatur(-kritik) auf, der sich in relativ ausführlichen Einträgen beispielsweise zur Neuen Subjektivität niederschlägt. Mit Vergnügen habe ich – als Auto-Laie und -Ignorant wohlgemerkt! – die Absätze zu unterschiedlichen Kfz-Modellen gelesen. Mein persönlicher Höhepunkt findet sich jedoch unter „U“ wie „Unsere kleine Farm“: Die für den Verriss dieser vermutlich tatsächlich unerträglichen Sonntagnachmittags-Heile-Welt-Familienserie exemplarisch herangezogene Handlung einer Episode erscheint mir alles andere als abwegig, denn auch ich habe zeitweise in der Schule nichts mehr mitbekommen, weil ich mich trotz Kurzsichtigkeit konsequent einer Brille verweigerte, haha…

Für ein Debüt ist „Die Goldenen Siebziger: Ein notwendiges Wörterbuch“ eine annehmenswerte Einladung zu einer durchaus vergnüglichen Reise durch die Untiefen, Höhe- und Tiefpunkte sowie Absurditäten der ’70er aus der Perspektive bundesdeutscher, gebildeter jünger Männer, die jedoch bereits andeuten, was sie von den ’80ern halten. So liegt mir auch der Fricke/Schäfer-Nachfolger „Petting statt Pershing: Das Wörterbuch der Achtziger“ vor, von dem ich schon jetzt weiß, dass mein Widerspruch wohl wesentlich vehementer ausfallen wird als zu diesem handlichen Büchlein, dem in jedem Falle ein paar mehr Bilder gutgetan hätten – aber einen bunten Wälzer voller großflächiger Abbildungen bei Verdopplung der Seitenzahl dürfte einem solchen Debütantentrio wohl kein Verlag finanziert haben. Wer die ästhetische Seite der ’70er genießen will, sollte sich ohnehin besser einen schönen Giallo (wo ist dieser Eintrag eigentlich abgeblieben?) aus den guten Siebzigern einlegen.