„Als im Sommer 1989 Brüder und Schwestern die DDR verließen, kam ihnen einer entgegen. Der Dichter Ronald M. Schernikau emigrierte aus Westberlin und wurde DDR-Bürger“, heißt im Paratext zu diesem rund 120-seitigen broschierten Band, der 1992 als die Nummer 1 der „konkret texte“-Reihe im Hamburger Konkret-Verlag veröffentlicht wurde.

Ronald M. Schernikau war ein deutscher, offen homosexuell lebender Schriftsteller und Kommunist, der sechs Jahre nach seiner Geburt mit seiner Mutter aus der DDR nach Niedersachsen übergesiedelt war – und einer der wenigen Menschen, die freiwillig in sie zurückkehrten. Zuvor war er bereits sechszehnjährig der DKP beigetreten, hatte 1980 sein Buch „Kleinstadtnovelle“ über ein schwules Coming-out in einer Kleinstadt veröffentlicht, war nach West-Berlin umgezogen und dem dortigen SED-Ableger, der SEW, beigetreten und hatte durchgesetzt, als West-Berliner am Leipziger Institut für Literatur studieren zu dürfen – eine Zeit, in der sein Buch „Die Tage in L.“ entstand. 1988 trat er sogar – immer noch als Westdeutscher, wohlgemerkt – der SED bei, wofür er eine Bürgschaft benötigt hatte. Diese hatte er von Peter Hacks bekommen, einer weiteren nicht ganz gewöhnlichen Personalie: DDR-Bürger Hacks war Begründer der sozialistischen Klassik und ein auch in der BRD geachteter Dramatiker und Schriftsteller, zudem ein Anhänger Walter Ulbrichts und Gegner der von vielen als reformistisch und offener empfundenen Politik Erich Honeckers – und Befürworter der Aussiedlung Wolf Biermanns. Mit eben jenem Hacks führte Schernikau einen Briefwechsel, der im Prinzip 1984 begann und sich Ende der 1980er intensivierte, als Schernikau mit Hacks u.a. diskutierte, ob er in die DDR übersiedeln solle. Er zieht sich bis kurz vor Schernikaus Tod im Jahre 1991.

Nach einem elfseitigen Nachruf Rainer Bohns auf Schernikau folgt der rund 30-seitige Briefwechsel, bestehend aus kurzen wie längeren Schreiben und erweitert um erläuternde Fußnoten. Diese privaten Briefe ehemaliger Zeitgenossen zu lesen hat natürlich etwas Voyeuristisches. Schernikaus Biographie hatte mich neugierig gemacht, wobei das so nicht ganz stimmt: Mein Interesse hatte der Umstand geweckt, dass überhaupt jemand Ende der 1980er freiwillig in die DDR emigrierte. Im Zuge der Lektüre dieses Buchs und weiterer Recherche ergab sich ein etwaiges Bild, wer Schernikau war. Die Briefe liefern fragmentarische Gedanken zur Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven, einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs, auf den jedoch kaum eingegangen wird, und einen Eindruck vom Selbstverständnis beider Männer, die betont höflich und ehrfurchtsvoll miteinander umgehen. Mitunter erscheint Schernikau beinahe etwas unterwürfig, aber auch fordernd. Manchmal wird es etwas schwülstig („Ausgezeichneter Schernikau, …“), dann wieder humorvoll. Und wer glaubt, das Austauschen unbestimmter Artikel gegen die Ziffer „1“ gehe auf den Rapper „Money Boy“ zurück, sieht sich hier eines Besseren belehrt: Zeitweise schreiben Schernikau und Hacks (!) bereits genauso. Schernikaus Krankheit hingegen wird nie thematisiert.

Den Löwenanteil des Buchs allerdings macht dann ganz etwas anderes aus: Ein 72-seitiger Auszug aus Teil VI des posthum veröffentlichten Schernikau-Romans „Legende“, an dem er acht Jahre lang gearbeitet hatte. Weshalb einen Auszug aus der Mitte eines Romans, welchen Sinn soll das ergeben? Nun, „Legende“ verfügt zwar über wiederkehrende Figuren, ein roter Faden lässt sich jedoch nur schwer ausmachen. Vielmehr mutet es wie eine lose Gedankensammlung an, streng durchnummeriert und doch höchst frei und spontan. Großbuchstaben existieren für Schernikau nicht, Regeln der Interpunktion werden ignoriert. Schernikau lässt seinem Humor freien Lauf, vergleicht Politik mit Kunst und stellt krude Thesen auf, meist so, als habe er seine Gedankenblitze und Handlungsfragmente chronologisch niedergeschrieben. „Legende“ scheint in einer abstrahierten Realität angesiedelt zu sein, in der die Widersprüchlichkeit, die auch Schernikau verkörperte, allgegenwärtige Normalität ist. Einmal an den Stil gewöhnt, liest sich dieser Passus gut und schnell. Inwieweit man mit ihm wirklich etwas anzufangen weiß, im Jahre 2019 und nur grob eingeordnet, gerade erst mit Schernikau in Briefform Bekanntschaft gemacht habend, sei indes dahingestellt.

Wie sich Schernikau als scharfer Beobachter einer- und kindlich begeisterungsfähiger, naiv anmutender Grenzgänger andererseits in Dualismus und Dialektik beider deutscher Staaten stürzte und sich letztlich für die DDR entschied, wirkt inspirierend und motiviert, auch ungewöhnlich Wege zu gehen, wenn das Ziel die Selbstverwirklichung ist. Es macht Lust auf „Die Tage in L.“ und mit zwei Menschen bekannt, die politische Positionen vertreten, die es heute gar nicht mehr zu geben scheint. Wer wissen möchte, weshalb ein „bunter Vogel“ wie Schernikau nun wirklich in die DDR  ging, wird seine Fragen hier möglicherweise nicht befriedigend beantwortet bekommen und an anderer Stelle weiterlesen müssen.

Ronald M. Schernikau starb 1991 an Aids. Ein trauriges Zeitdokument ist dann auch die letzte Buchseite, auf der um zahlreiche Denker, Künstler und Autoren getrauert wird, die homosexuell waren und an den Folgen der Immunschwächekrankheit starben. Wer weiß, was ein Nonkonformist wie Schernikau uns heute zu sagen hätte?