Wie bereits mehrfach erwähnt, ist das Wohlwillstraßenfest auf St. Pauli eines der angenehmsten, was in erster Linie an seiner nichtkommerziellen Ausrichtung liegt. Zudem ist es eine erstklassige Fluchtmöglichkeit vor den zeitgleich den Kiez vereinnahmenden „Harley Days“, die für Zahnarzt- und Anwalts-Massenwanderung gen Reeperbahn sorgen – Midlife Crisis olé! Für das ganze Drumherum mit Flohmarkt, diversen Fressbuden etc. hatte ich diesmal keine Zeit, leider auch für die erste Band des Hamburger-Band-Reigens BIJOU IGITT, die wie eine Verwandte unserer mit BOLANOW BRAWL besungenen „Brigitte Bordeaux“  klingt, nicht. S.O.S. jedoch zockten offenbar noch nicht allzu lange, als ich am Paulinenplatz vor der Anhängerbühne eintraf und mich am melodischen Punkstoff von Sängerin Cecilie & Co. ergötzen konnte. Die hatten sich in letzter Zeit etwas rar gemacht, waren nun jedoch in alter Stärke wieder mit ihren ohrenschmeichelnden Melodien und Cecilies kräftiger Ausnahmestimme am Start, natürlich inkl. ABBA-Cover „S.O.S.“. Das ist nach wie vor kein Wischiwaschi-Trallala-Zeug, sondern flott gespielter, gern mal hymnischer Punk mit HC-Einflüssen, echten Hits und Wiedererkennungseffekt. Cecilie wurd’s zu eng auf der Bühne und so wandelte sie durch’s Publikum, das sich gerade warmtrank. Gesungen wird auf Englisch, mit der einen Ausnahme, wenn die Dame mit ihrer großen Country-Gitarre eine spanischsprachige Nummer schmettert. Dank der zwei Gitarren ist der Sound auch immer schön dicht. Perfekter Auftakt für einen sonnigen Samstag!

Weitaus weniger anfangen konnte ich dann mit SPITTING NAILS, die in Trio-Größe einen zwar durchaus brachialen, jedoch in Richtung Sludge oder so tendierenden modernen Hardcore kredenzten, bei dem keine rechte Freude aufkommen will. Der getragene Brüllgesang nimmt den Songs jegliche Energie und macht aus dem tiefergestimmten Gerödel ein ermüdendes, monotones Etwas. Das geht mir aber auch bei allen anderen Bands dieses Bereichs so, weshalb ich diese Musikrichtung generell überflüssig finde – sorry. Während sich der Drummer seinen Schnurri schwindelig trommelte und der Gitarrist sich die Seele aus dem Leib brüllte, kam einfach nichts rüber, das mich irgendwie angesprochen hätte und selbst der Bassist zog es irgendwann vor, lieber auf seinem Hocker Platz zu nehmen.

Die paranoiden Laser-Punks, Pollenallergiker und Möchtegern-Münchener BRUTALE GRUPPE 5000 treiben schon länger ihr Unwesen, liefen bisher aber immer unter meinem Radar – vermutlich dank ihrer Aluhüte und Anti-Gesichtserkennungs-Pornobalken. Die sich aus Leuten von CONTRA REAL, LOSER YOUTH und PRAXIS DR. SHIPKE rekrutierende Band konnte mir nun aber nicht mehr entwischen und meine Befürchtungen, dass sie sich irgendeinem nervigen, klinischen Elektroschrott verschrieben haben könnten, wurden nicht bestätigt, im Gegenteil: Das ist schon gitarrendominierter Hardcore, nur eben zusätzlich mit so’nem lütten Casio-Keyboard, das der Shouter, der sich damit unten vor der Bühne positioniert hatte, hin und wieder bediente und als Fixpunkt zum Drumherumrennen nutzte. Nun ging ich von konzeptionellen Inhalten aus, die auf die dämlichsten Verschwörungstheorien hereinfallenden und gern mit mind. einem Bein im rechten Sumpf watenden Paranoiker abzielen, doch dies scheint nur bei einem Teil der Songs der Fall zu sein; andere setzen sich mit sehr realen und weltlichen Themen auseinander, dabei sich die künstlerische Freiheit herausnehmend, klassische Song-, Vers- und Textlängen außer Acht zu lassen – der kürzeste Song ist vier Sekunden „lang“ – und sich schön aggressiv freizupöbeln. Anhänger der leisen Töne sind BG5k eher nicht, das geht mehr Richtung Urschreitherapie, nur eben nicht auf die dumme Tour. Wenngleich bis auf manch als Refrain prominent platziertes Hauptwort („Glyphosat“) nicht viel von den Texten zu verstehen war, machte der Gig gerade aufgrund seiner sich aus dem Bandkonzept ergebenden Entrücktheit Laune und wirkte extrem kurzweilig, wenn auch die eine oder andere populäre Videospiel-Melodie, die nach den Stücken aus dem Keyboard ertönte, dem eigenen Material fast die Show zu stehlen drohte. 😉 Freue mich jedenfalls auf unseren gemeinsamen Gig in Norderstedt.

Die alten DER-UNFUG-UND-SEIN-KIND-Haudegen Beastar, Paul und Alex hatten vor einiger Zeit die Punkrock-Band SPIKE aus der Taufe gehoben, an der es nun war, den musikalischen Teil des Abends abzuschließen.  Ganz im Mittelpunkt steht die Sängerin im etwas gewöhnungsbedürftigen Trainingsanzug- und Riesenohrringe-Outfit, die jedoch eine Hammerstimme hat, mit dieser umzugehen weiß und sich in englischer Sprache souveränst durch das melodische, arschtretende Material singt, dabei gern mal sportlich um sich tretend. Das Zeug geht super in die Gehörgänge und begeisterte den überwiegenden Teil der größeren Menschenmenge vor der Bühne mit seiner Energie, Attitüde und Finesse. Schön, dass die jetzt offenbar öfter mal was machen, denn nach ihrem Live-Debüt vor etwas über zwei Jahren im Kraken war das erst mein zweiter SPIKE-Gig. Da dürfte noch einiges gehen!

Gute Ausbeute also mal wieder und ein schöner Noch-nicht-ganz-Ausklang des Straßenfests, das erst in der Kneipe sein Ende fand und im Vergleich zu manch anderem „alternativen“ Straßenfest angenehm entspannt und stressfrei ablief. Danke an die Veranstalter und Mitverantwortlichen und bis nächstes Jahr, wa?