Ein Traum in Infrarot
Deutschland und Hamburg haben die Pandemiezügel deutlich gelockert, sodass GEOFF TATE endlich seine ursprünglich fürs Jahr 2020 geplante Tour hierzulande antreten und ich endlich das erste Ticket von meinem Stapel der verschobenen Konzerte einlösen konnte. Es sollte mein erstes Konzert seit eineinhalb Jahren, gar mein erstes Indoor-Konzert seit gut zwei Jahren werden. Als Fan des QUEENSRŸCHE-Konzeptalbums “Operation: Mindcrime” war ich im Dezember 2018 zugegen, als deren ehemaliger Sänger GEOFF TATE im Gruenspan das komplette Album live dargeboten hatte. Das hatte mich schwer begeistert, sodass ich spontan zuschlug, als mich die frohe Kunde erreichte, Tate würde im Frühjahr 2020 mit den QUEENSRŸCHE-Alben Nummer 2 und 4, „Rage For Order“ und „Empire“, ebenso verfahren – obwohl sich mir diese bis dahin nie in Gänze erschlossen hatten. Die Neugier überwog, und natürlich die Vorfreude, Songs wie „Walk In The Shadows“ oder „Gonna Get Close To You“ einmal vom Originalsänger live zu hören zu bekommen.
Etwas verwundert, aber auch freudig überrascht war ich, dass die Tour nun endlich fast wie geplant stattfinden würde, inklusive beider Vorbands. Um auch ja nichts dem Zufall zu überlassen, war ich überpünktlich am Konzertort – einem meiner bevorzugten in Hamburg – und labte mich erst einmal in entspannter, angenehmer Atmosphäre an einem frischgezapften Duckstein an der zum Areal gehörenden Gastronomie (wo man anscheinend auch vorzüglich speisen kann). Der zweigeteilte Einlass – draußen 2G+-Kontrolle, innen Ticketverkauf bzw. -abriss – war professionell organisiert und ging flott vonstatten, wenngleich man sich angesichts meines alten Hardtickets verwundert die Augen rieb, warum auch immer.
Band of Brothers
Um pünktlich 18:40 Uhr eröffneten SONS OF SOUNDS aus Karlsruhe den musikalischen Abend. Drei der vier Bandmitglieder sind Geschwister, von denen der Gitarrist Fußballsachverstand bewies, indem er sich sein FC-St.-Pauli-Shirt übergezogen hatte und dafür zahlreiche Sympathiepunkte erntete. Und vor der Bühne: ich, mit nacktem Gesicht, sprich: unmaskiert. Das fühlte sich etwas seltsam, beinahe obszön an, als hätte ich den Saal mit offener Hose betreten. Verstohlen sah ich mich um, und tatsächlich: Ich war Teil einer großen Gruppe Gesichtsexhibitionisten, die Masken waren gefallen, und der Sicherheitsdienst machte keinerlei Anstalten, einzuschreiten. Es stimmte also: Die Maskenpflicht war ohne Wenn und Aber aufgehoben, es existierte auch keine Abstandspflicht mehr. Wie in Prä-Covid-19-Zeiten konnte ungehindert dem Konzertgenuss nachgegangen werden! Ich holte mir ein Bier und lauschte den Söhnen der Klänge, die nach ein paar durchwachseneren Platten vor ein paar Monaten mit „Soundphonia“ ein recht starkes Album veröffentlicht haben. Auf dieses schienen sie sich live vornehmlich zu konzentrieren, die Mischung aus melodischem Heavyrock und rockigem Metal mit viel positiver Energie machte Spaß. Sänger Morales entpuppte sich als Animateur vor dem Herrn, unternahm mit seinem Funkmikro Ausflüge ins Publikum und verstärkte den Bandsound beim einen oder anderen Song mit einer zweiten Gitarre. In Kombination mit Morales‘ kraftvollem und sicher die Töne treffendem Gesang und seiner theatralischen Gestik und Mimik erinnerte mich das Gesamtpaket mitunter ein wenig an DIO zu „Lock Up The Wolves“-Zeiten. Zugegeben, darauf kam ich, als der deutschsprachige Songs „Wolfskind“ angekündigt wurde. Gegen Ende stimmte er eine Ballade an und überraschte damit, wie er auch die leiseren, zerbrechlicheren Töne beherrscht, jedoch stellte sich dieser Part lediglich als Intro eines dann doch flotteren Songs heraus. SONS OF SOUNDS kamen sehr gut an und wurden entsprechend freundlich vom bereits zahlreich erschienen Publikum verabschiedet.
Männer können seine Gefühle zeigen
Den musikalischen Härtegrad steigerten nach verdammt kurzer Umbaupause die Australier DARKER HALF mit einer Melange aus Power-, Speed- und melodischem Thrash Metal. Aus vier Alben und zwei EPs hatte man ein gut funktionierendes Set zusammengestellt, das mir meist dann am besten mundete, wenn es flotter zur Sache ging. Sänger Vo spielte zugleich die Leadgitarre, für Bewegung auf der Bühne sorgten Bassist Simon Hamilton und der kahlgeschorene zweite Gitarrist Daniel Packovski. Beide waren unermüdliche Aktivposten und insbesondere Packovski untermalte sein Spiel mit einer derart emotionalen Mimik, dass es schien, als fühle er jeden angeschlagenen Ton bis ins Mark. Zudem suchte er immer wieder die Nähe zum Publikum. Das verstärkte die Wirkung der Musik auf mich, von der mir insbesondere „Falling“ im Ohr geblieben ist. DARKER HALF sind eine astreine Liveband, die den Großteil der Anwesenden überzeugt haben dürfte. Geheimtipp!
Geoff’s Gonna Get Close
GEOFF TATE hatte ja mal den Ruf einer charakterlich nicht ganz einfachen Metal-Diva weg, doch während seinerzeit bei den Thrashern von DESTRUCTION ein Absperrgitter vor der Bühne angebracht werden musste, gab es hier keine solcher Sperenzien: Tate hatte kein Problem mit unmittelbarem Publikumskontakt und präsentierte sich, wie bereits 2018 im Gruenspan, als sonorer Gentleman. Allerdings musste man recht lange warten, bis er und seine Band die Bühne überhaupt betraten, offenbar wollte man 21:00 Uhr abwarten. Zumindest Teile des Publikums waren schon ungeduldig geworden, vereinzelte Pfiffe hallten durch den Kulturpalast. Dafür war der Jubel umso größer, als Tate mit einer gegenüber dem „Operation: Mindcrime“-Set von 2018 bis auf einen der drei (!) Gitarristen komplett ausgewechselten Band aus jungen internationalen Profimusikern erschien und direkt mit „Walk in the Shadows“ eröffnete. Und sofort war alles da: nicht nur die Bühnenpräsenz und Aura des Prog-Metal-Urgesteins, sondern auch seine Stimme. Die war bestens in Schuss. Irritierend war zunächst das E-Drum-Set, an das ich mich erst gegen Ende des Konzerts gewöhnen habe können, aber immerhin wurde es von einem Menschen aus Fleisch und Blut gespielt. Allerdings sah die Saitenfraktion wie eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus, und ihr Posing machte es nicht unbedingt besser: Das erinnerte mich an B-Movies aus den ‘80ern, in denen ein musikalisch ahnungsloser Regisseur eine Hardrock-Band oder das, was er dafür hielt, für ein, zwei Playback-Szenen aus Komparsen zusammencastete, in irre Klamotten steckte und beim ungelenken Bühnenacting abfilmte. Wessen Idee waren der Lederrock und die Sonnenbrille des Bassisten? Weshalb muss der eine Gitarrist ständig ach so crazy seine Zunge herausstrecken? Wer hat dem anderen Sechssaiter die zu enge Lederjacke herausgelegt?
Aber sie lieferten! Auf fast schon beängstigend perfektionistische Weise stimmte jeder Ton, spielerisch gab sich die Band keinerlei Blöße. „Walk in the Shadows“ drückt natürlich live und laut erst so richtig, und das folgende „I Dream in Infrared“ empfand ich live als wesentlich zwingender als aus der Konserve. Wenn Geoff Tate in den höchsten Tönen und mit ebenso viel Lungendruck wie Gefühl singt, liegt der Fokus ohnehin nur auf ihm. Einstieg geglückt! Das DALBELLO-Cover „Gonna Get Close To You” zählt ohnehin zu meinen Favoriten, neu bzw. für mich wiederentdeckt habe ich im weiteren Verlauf das für dieses Album ungewöhnlich schnelle und geradlinige „Surgical Strike“ sowie das ergreifend gesungene (und gepfiffene!) „I Will Remember“. Zwischendurch berichtete Geoff, dass es schon lange einer seiner Träume gewesen sei, dieses Album einmal komplett live zu performen, und davon, wie es damals von der Kritik aufgenommen worden sei: als irgendwie düster, futuristisch, grüblerisch. Mit dem Verklingen des letzten Albumtons endete dieses beeindruckend dargebotene Stück Hochkultur, das man in einer recht langen Pause zu verarbeiten Gelegenheit bekam.
Das über weite Strecken etwas luftiger und lockerer, vor allem weniger düster rockende „Empire“-Album, im Spätsommer 1990 erschienen, war ein großer kommerzieller Erfolg für QUEENSRŸCHE. Das textsicherere Publikum sang alle Refrains begeistert mit, bis noch in der ersten Hälfte plötzlich die P.A. ausfiel. Geschlossen verließen Geoff und seine Band die Bühne, während vermutlich fieberhaft an einer Problemlösung gearbeitet wurde. Nach einigen bangen Minuten ging’s glücklicherweise weiter, und weder auf die Spielfreude noch auf die Publikumsreaktionen schien der Zwischenfall spürbare Auswirkungen gehabt zu haben. Geoff griff, je nach Song, auch mal zum Schellenkranz und zum Saxophon; zwischendurch plauderte er über die Pandemie und wie er sie (mit viel Wein) überstanden habe, um mit einer amüsanten Anekdote zur Megaballade „Silent Lucidity“ überzuleiten. Nach dem letzten Song lobte er Hamburg und ging über in den Zugabenblock, der angesichts zwei durchgespielter Alben mit „Last Time In Paris“, „Take Hold Of The Flame“ und der geilsten „Queen Of The Reich“-Version, die ich jemals gehört habe, noch einmal recht üppig ausfiel. Value for money (bei ohnehin äußerst fairem Eintrittspreis)!
So endete erst gegen 23:45 Uhr eine Show, die für meinen Geschmack etwas weniger durchchoreographiert hätte sein dürfen, aber zweifelsohne über die gesamte Dauer großartige musikalische Unterhaltung bei perfektem Sound bot. GEOFF TATE in Topform – viel besser hätte meine Konzertsaison nicht eingeläutet werden können. Schwer begeistert trat ich den Rückweg an und zog mir per Mobilfon gleich noch mal das „Rage For Order“-Album rein. Ob er wohl auch einmal mit dem ersten Album und der ersten EP auf Konzerttour gehen wird…?
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