wohlwillstraßenfest 2016

Das Wohlwillstraßenfest, das sich über diverse Straßen nördlich der Reeperbahn erstreckt, ist eines der angenehmsten seiner Art. Ich weiß nicht, wie lange es bereits existiert, aber die letzten beiden Jahre habe ich als äußerst lohnend in Erinnerung: So etwas wie das weniger überfüllte Schanzenfest, zudem ohne Bullenterror oder Krawalltouristen. Straßenfest-Obligatoria wie Verzehrstände, Hüpfburgen etc. gehen dort einher mit politischem Anspruch, der sich in Form von Infoständen zu unterschiedlichen Missständen äußert, sowie einem schönen Flohmarkt, auf dem ich regelmäßig Vinyl abgreife. Auch die Angebote fürs leibliche Wohl heben sich deutlich von anderen Veranstaltungen ab und so lassen sich hier z.B. zum von Flüchtlingen hergestellten und verkauften Veggie-Döner leckere Cocktails vom True-Rebel-Stand schlürfen. Zunächst einmal führte mich die anfängliche Stippvisite meiner Begleiter in den Silbersack jedoch in regen Austausch mit Besitzer Dominik, so dass ich tatsächlich schon mittags mein erstes Astra genoss. Vom auf 12:00 Uhr ausschläferfreundlich angesetzten Straßenfest verpassten wird dadurch aber nicht viel; das Abklappern aller Flohmarktstände nahm viel Zeit in Anspruch und wurde immer wieder durch kurze Schnacks mit Bekannten unterbrochen. Das Wetter spielte – in diesem Sommer ausnahmsweise – auch mit, also sprichwörtlich alles eitel Sonnenschein (mal abgesehen von diesem einen Himmelhochjauchzendzutodebetrübt-Moment, als sich das falsche Vinyl in der richtigen Hülle befand und man so leider nicht ins Geschäft kam).

wohlwillstraßenfest,-20160709_163107Am Nachmittag gesellten wir uns zur Live-Bühne in der Paulinenstraße um die Ecke vom Jolly Roger, wo neben günstigem Getränkeausschank gegrillte Veggie-Steaks im Brötchen angeboten wurden und sich der subkulturelle Dreh- und Angelpunkt des Fests bildete. Bei der Bühne handelte es sich wie gewohnt um die Ladefläche eines Lkws, wobei das B5, vor dessen Bühnen der Liveteil letztes Jahr stattgefunden hatte, anscheinend diesmal zeitweise parallel eigene Bands auf eigener Bühne spielen ließ, u.a. war wohl von einer türkischen Ska-Band die Rede. Davon bekam ich aber nichts mit und auch die Eröffnung der Paulinenstraßen-Live-Party mit NEOPIT PILSKI (dürfte so Singer/Songwriter-Mucke gewesen sein), lief noch größtenteils an mir vorbei. Ähnliches gilt für KATARRH, die mir ebenfalls rein gar nichts sagten und ich glaube arg rustikalen HC-Punk mit kehligem Gegröle als Gesang zockten, während der Bassist kurioserweise permanent dem Publikum dem Rücken kehrte. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt schließlich DER UNFUG UND SEIN KIND, entweder umbenannt oder nur auf dem Flyer radikal gekürzt in UNFUG, einer der vielleicht Promo-faulsten Punk/HC-Bands Hamburgs. In Trio-Besetzung gab’s hier 100%ig schnörkellosen Hardcore mit größtenteils englischen Texten um die Ohren geprügelt, der an ‘90er-Groove-Zeug erinnerte, dafür aber in seiner Kompromisslosigkeit herrlich spröde und knochentrocken durchgebolzt wurde. Shouter und Gitarrist Beastar entledigte sich für den Gig seines Shirts und beschränkte die Kommunikation mit dem Publikum darauf, kurz nachzufragen, ob der Sound so ok sei. Die einzige Ansage lautete schlicht „Letzter Song, keine Zugabe!“ und war auch noch verkehrt, denn mit dem wüstesten und ich glaube einzigen deutschsprachigen Song „HC Farmsen“ folgte eine ebensolche. Schönes Ding und von mir aus gern mal öfter.

Die längeren Umbaupausen luden ein, sich zwischenzeitlich immer wieder auf Jolly Roger, Kiosk, Bier- oder Cocktail-Stand zu verteilen und zu PLASTIC PROPAGANDA kam ich dann auch tatsächlich etwas zu spät, was u.a. am zwischenzeitlichen Regenschauer lag, ganz ohne den es diesen Sommer nicht zu gehen scheint. Mit zwei Gitarren wurd’s nun für den Mischer auch etwas anspruchsvoller, was den Umständen entsprechend aber m.E. ganz gut gelöst wurde. Die Stimmung war gut, vor der Bühne tanzte eine Gruppe verkleideter Kinder und die Band dürfte die meistfotografierte des Tags gewesen sein – was nicht zuletzt an ihrem äußeren Erscheinungsbild liegen dürfte, beim dem anscheinend nur wenig dem Zufall überlassen wird. Als Hits der Neo-’77-Punks erwiesen sich während dieses meines zweiten Live-Eindrucks „Bullshit Limbo“ und „Propaganda Superpower“ (noch besser als auf Platte!). PLASTIC PROPAGANDA sind stilistisch mit ihren zwei halbclean gespielten Klampfen allein schon deshalb interessant, weil sie sich an anderen ’77-Ikonen als den SEX PISTOLS oder RAMONES orientieren, wie es so viele andere taten und tun. Auch der weiblich-männliche Wechselgesang ist fast so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal. Neben etwas mehr Dreck fehlt mir hier und da vielleicht noch etwas der letzte Melodie-Kick, das aber eigentlich auch nur, weil das große Potential aus jedem Akkord erklingt. Während ich das hier schreibe, läuft das Album gerade mal wieder durch und bestärkt mich ebenso wie der Gig im Vorhaben, mir PLASTIC PROPAGANDA alsbald gern wieder anzuschauen.

Mein anderes Vorhaben, nämlich rechtzeitig den Absprung zu schaffen, konnte ich in die Tat umsetzen, verzichtete auf den letzten Act WOLLE POLLE und begab mich zurück nach Hause. Wo ein Wohlwill ist, ist auch eine Straße!